Johannes Stolz hat noch nie in seinem Leben unrasiert das Haus verlassen. Er steht im beigefarbenen Anzug, mit Krawatte und weißem Hemd neben dem ICC auf dem Berliner Messegelände und steigt in den Bus, der die Journalisten und Händler von Halle zu Halle bringt. Sein schlohweißes Haar ist sorgsam in den Nacken gekämmt, sein Anzug maßgeschneidert. Er bleibt beim Fahrer stehen, zieht sein Jackett aus, streicht es glatt. Dann wechselt er mit ihm den Sitz und wünscht seinem Kollegen eine schöne Mittagspause. Er blickt in den Rückspiegel, schließt die Türen und fährt los.
Johannes Stolz ist 77 Jahre alt. Eigentlich ist er Rentner, aber er arbeitet immer noch als freiberuflicher Messebusfahrer. 40 Jahre lang war er bei der BVG. „Keine Beschwerden, dafür eine Belobigung“, sagt er. Nur kurz verlässt sein Blick die Straße vor ihm. „Ich bin mein Leben lang Bus gefahren. Ich kann gar nicht ohne. Das ist meine Welt.“ Dann ist seine ganze Aufmerksamkeit wieder auf die markierte Straße auf dem Messegelände gerichtet, auf der er mit 15 bis 20 Stundenkilometern unterwegs ist. Mit beiden Händen lenkt er den Bus im Schritttempo von Halle zu Halle und wieder zurück. Eine Runde dauert eine halbe Stunde. Monoton. Fast meditativ. Entschleunigung im Kreis.
Am liebsten sind ihm die Stammfahrgäste, die jedes Jahr kommen. „Man kennt sich, grüßt sich. Morgens sind sie noch nicht so redselig, man selbst ja auch nicht.“ Manchmal ärgert er sich über die, die einfach einsteigen, ohne zu wissen, wo der Bus hält. „Sobald eine Tür aufgeht, gehnse rein, egal welche Linie. Manchmal wollnse auch zum Flughafen Tegel. Die Japaner, Chinesen und Koreaner checken das eher als unsere Deutschen. Die fahren einmal falsch, gucken auf den Plan und wissen dann genau, wo ich nicht hinfahre.“
Hier rein, da raus
Doch Johannes Stolz lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Dafür ist er zu lange im Geschäft. „Da steh ich drüber. Man hat ja eine gewisse Routine. Wenn jemand Ärger machen will, schalte ich auf Durchzug. Hier rein, da raus.“ Sein Finger fährt von einem Ohr zum anderen. Dabei blitzen seine Augen listig über den Rand seiner goldgeränderten Brille. Er hat sie alle miterlebt, schon als BVG-Busfahrer. Die gehetzte Geschäftsfrau, die winkend hinter dem anfahrenden Bus hinterherläuft und, kaum dass sie eingestiegen ist, feststellt, dass sie in der falschen Linie ist und sofort wieder aussteigen möchte. „Die, die angerannt kommen, sind meistens falsch. Die müssen halt warten bis zur nächsten Haltestelle. Zwischendurch halten, gibt’s bei mir nicht. Wir sind ja keene Taxen.“
Dann gab es irgendwann die Jugendlichen, die ihr Handy auf Lautsprecher stellen und sich lärmend über ihren Aufenthaltsort verständigen. „Der Nachwuchs wird ja auch immer laxer erzogen. Bisschen Strenge und Disziplin würde helfen.“ Und immer wieder gab es jemanden mit Alkoholfahne, der ein Gegenüber sucht, mit dem er sich ein bisschen streiten kann. An Johannes Stolz ist aller Ärger abgeprallt. „Man wird auch gleichgültiger. Quatsch du doch. Ich mach’ einfach dicht.“ Alle seine Passagiere stiegen irgendwann auch wieder aus. Aber er blieb im Bus sitzen und fuhr weiter. Bis heute. Über ein halbes Jahrhundert später.
Über den Beginn eines Arbeitstages von Johannes Stolz wachen drei Wecker. Der erste ist auf kurz vor sechs Uhr gestellt. „Wenn der zweite um kurz nach sechs klingelt, muss ich draußen sein.“ Er geht dann ins Bad. Rasiert sich. 20 Minuten später klingelt der dritte Wecker. „Den dritten stelle ich meistens schon vorher aus. Der ist nur zur Sicherheit.“
Zweimal nur hat ihn sein System überlistet. Und er kam zur spät zu Arbeit. Damals war er Anfang 20 und noch frisch bei der BVG. „Eine halbe Stunde kam ich zu spät. Damals hatte ich noch nicht so den Rhythmus“, sagt Johannes Stolz und streicht dabei den Hosenstoff an seinen Knien glatt. Als wolle er den Ärger über diese unnötige Verspätung, der gerade wieder in ihm hochsteigt, ausbügeln. Denn sonst ist seine Routine perfekt getaktet. Zum Frühstück liest er seit fast 50 Jahren die Berliner Morgenpost. Dazu isst er die Schnitten, die ihm seine Frau schmiert, während er im Bad ist. Sie lernten sich kennen, als sie noch als Schaffnerin bei der BVG gearbeitet hat.
Um kurz nach sieben verlässt er das Wohnhaus in der Cicerostraße in Wilmersdorf, an dessen Brandschutzmauer die Zeichnung eines technischen Räderwerkes prangt. Das strahlte in den 50er-Jahren, als der angrenzende Betriebshof Cicerostraße neu eröffnet wurde, noch Modernität aus. Der Wohnblock, in dem Johannes Stolz seit über 35 Jahren wohnt, war im BVG-Besitz, ausschließlich von Mitarbeitern bewohnt und umgibt den Betriebshof. Er ist quasi mit seiner Arbeit verwachsen. Aus seinem Schlafzimmerfenster blickt er auf die abgestellten Busse. Das hydraulische Zischen der Türen ist das letzte Geräusch, mit dem er abends einschläft.
Mit dem Motorgeräusch der anfahrenden Busse wacht er morgens auf. Um acht Uhr fährt er seine erste Tour auf dem Messegelände, seine letzte endet um 19 Uhr. „Durchhalten“, lautet sein Lebensmotto. Er ist zusammen mit der BVG alt geworden – seine ehemalige Betriebsfußballmannschaft hat sich irgendwann umgestellt auf Kegeln, inzwischen gehen sie einmal im Monat wandern. Drei von ihnen haben sich abgesetzt, zwei sind schon verstorben. Fünf Paare sind übrig geblieben.
An seinem letzten BVG-Arbeitstag vor der Rente fuhr Johannes Stolz die Linie 9 vom Flughafen Tegel zum Bahnhof Zoo. Dort wurde er auf einmal abgelöst, vorzeitig. Dafür stand ein Oldtimerwagen zum Einsteigen für ihn bereit. „Das war toll. Da gab es mehrere Gläser Sekt schon auf der Fahrt zum Betriebshof.“ Dort warteten seine Kollegen, um mit ihm seinen Abschied zu feiern.
Einige Monate lang genoss Johannes Stolz seine Rente. „Es war schön, dass ich nicht mehr auf die Uhr gucken musste. Es war Zeit mit eenmal.“ Er ging einkaufen, schaute im KaDeWe vorbei. „Mal gucken, was auf dem Markt ist.“ Buk Pflaumenkuchen. Oder Apfelkuchen mit Streusel für seine Tochter. Machte eine Reise. Legte sich nachmittags für ein paar Stunden hin bis zum Abendprogramm. Schaute sonnabends die „Sportschau“, montags „Tatort“, mittwochs „Soko Wismar“. Und anschließend die Lottozahlen. „Den Tag bringt man so rum. Aber das war mir zu langweilig. Ich wollte wieder Bus fahren.“ Einmal, als er sich wie jeden Monat mit seinen alten BVG-Kollegen trifft, erzählt ihm einer von den Messebussen.
Seitdem sitzt Stolz wieder hinterm Lenkrad. Aufrecht. Hängende Schultern, die seine Größe von 1,94 Meter mindern würden, sieht man bei ihm nie. Seit über zehn Jahren fährt er bei allen großen Messen im Jahr für mehrere Tage. ITB, Fruit Logistica, ILA, IFA, InnoTrans und Grüne Woche. „Das ist besser, als nur zu Hause sitzen. Man lernt auch allerhand Leute kennen.“
Bloß manchmal, da wundert er sich: „Die Geschäftsleute, die rasen ja heute mit zwei Handys am Ohr rum – wie haben die das früher gemacht? Da haben die doch auch die Messe besucht und alles hat geklappt.“ Johannes Stolz benutzt weder Handy oder Navigationssystem, noch war er jemals im Internet. Er hat ein Festnetztelefon. Seine Dienstpläne und Lohnabrechnung bekommt er per Post. „Fortschritt soll ja sein. Aber ich habe Termine gehabt und Arbeiten ausgeführt ohne Handy und ohne Internet. Hat auch geklappt.“
Dass zwei Mobiltelefone am Ohr nicht als Erfolgsgarant für Geschäftsleute taugen, findet auch Sascha Lobo – dafür aber sind Social Media Marketing und der Kurznachrichtendienst Twitter für ihn unerlässlich: „Man kann knapp überleben, wenn man nicht twittert heutzutage, auch als Händler.“
Lobo ist ebenfalls Freiberufler, Autor und Interneterklärer, wie er es nennt. Auch er ist eine Art Busfahrer – für Rundreisen durch das Internet. Während er die Menschen von Station zu Station führt, zeigt er ihnen die verschiedenen Ecken und Möglichkeiten des Internets und erklärt die Zusammenhänge. Außerdem berät er Unternehmen strategisch, wie das Internet wirkt, und was man damit tun könnte.
Sein Roman „Strohfeuer“, handelt von den Auswirkungen der New Economy, deren teils unmoralischen Begleiterscheinungen und dem Platzen der Dotcom-Blase. Sein erstes Buch „Wir nennen es Arbeit“, das er mit Holm Friebe schrieb, umreißt die digitale Bohème, zu der er gehört. Das Verständnis dieser neuen, selbstständigen, projektbezogenen Form von Arbeit ist der Gegenentwurf zum Leben von Johannes Stolz.
Lobo beginnt seinen Arbeitstag in der horizontalen Lage. Bei ihm klingelt morgens kein Wecker. „Das Konzept Wecker habe ich weitestgehend verbannt aus meinem Leben.“ Der 35-jährige mit dem zum Markenzeichen stilisierten roten Irokesen-Haarschnitt ist eigentlich immer online. Wenn man wissen will, wo er sich aufhält, genügt ein Blick auf seine Website. Eine Handyortungsfunktion verrät seinen Standort auf einer Googlemaps-Karte fast punktgenau.
Morgens kommen die Signale seines iPhones, das er nie ausschaltet, aus seiner Wohnung in Prenzlauer Berg. Zwischen sieben und acht Uhr wacht er von selbst auf, bleibt im Bett liegen und klappt sein iBook auf, das auch nur im Ruhemodus ist. Während er einiges an Kaffee trinkt, schaut er sich in der digitalen Welt um, klickt sich durch bis zu 20 Nachrichtenportale und Blogs. Zeitgleich surft er auf US-amerikanischen, britischen oder deutschen Webseiten. Bei River, einem Content-Sammler, der Nachrichten im Internet filtert und neu zusammenstellt, sieht er, welche die meistdiskutierten Artikel auf Twitter und in Blogs sind. Er liest Reaktionen auf seine Arbeit oder informiert sich über Themen, auf die er reagieren sollte. „Das ist auch ein Teil meiner Arbeit, gegenüber der Presse Stellung zu nehmen zu irgendetwas, das auch nur ansatzweise mit dem Digitalen zu tun hat.“
Das Büro im Café
Die drei oder vier Meetings, die er pro Woche hat, versucht er immer auf den Vormittag zu legen. „Das ist eine Selbstkonditionierungsmaßnahme, damit ich an den Tagen auch aufstehe. Sonst passiert es mir zu leicht, dass ich mit dem Laptop bis 13.15 Uhr im Bett liege und den Tag vor Ort beginne. Dann ist es ruckzuck 16.30 Uhr und ich habe nichts gemacht außer auf Facebook zu schauen, was die anderen gemacht haben.“ Meist trifft er sich im Café Liebling in der Nähe seiner Wohnung. Sein Hauptarbeitsplatz, sogar Post bekommt er dorthin.
Sascha Lobo, 1,93 Meter groß, sitzt unrasiert hinter dem schmalen Holztischchen. Sein dunkelblaues Jackett ist leicht zerknittert, die Frisur noch etwas derangiert. Aus einer braunen Umhängetasche packt er seine Arbeitsutensilien aus. Nebeneinander aufgereiht nehmen sie nicht einmal ein Drittel des Tischchens ein. Ein berufliches Handy, ein privates iPhone, ein MacBook, ein iPad und zwei Kindle, die elektronische Version des klassischen Buches. „Seit fünf Jahren versuche ich, ein Büro überflüssig zu machen, indem ich überall mein Büro aufschlagen kann“, sagt er.
Die meisten Daten, die er dafür benötigt, sind in einer Cloud gespeichert, einem virtuellen Speicherplatz. Sollte er seinen Laptop verlieren, könnte er innerhalb von drei Stunden sein Arbeitssetting wiederherstellen und mit jedem anderen Computer weitermachen.
Wenn Sascha Lobo im Tagesverlauf feststellt, dass er nicht produktiv arbeiteten kann, arbeitet er eben nicht. Dann macht er einen Mittagsschlaf oder geht skaten. Doch dieser fließende Übergang zwischen dem professionellen und dem privaten Lobo, zwischen Arbeit und Freizeit verhindert es mitunter auch, richtig Feierabend zu machen; das musste er erst lernen. Arbeit in der virtuellen Welt mit mobilem Büro und flexiblen Arbeitszeiten – das ist das Gegenteil von der minutengenauen Taktung bei Johannes Stolz.
Doch etwas eint sie. Ihre Arbeit hat sich so sehr in ihr Leben geprägt, dass sie beide auch persönlich geformt hat. Sie sind so sehr mit ihrem Beruf verwachsen, dass man nicht genau sagen kann, wo der professionelle Mensch aufhört und der private anfängt. Sascha Lobo war bisher einmal in seinem Leben für sechs Monate angestellt und möchte es nie wieder sein. „Die Gleichförmigkeit, die man im Tausch für Sicherheit bekommt, ist für mich eine unerträgliche Vorstellung. Die würgt meine schöpferische Kraft ab.“
Was für den einen Gleichförmigkeit ist, ist für den anderen lieb gewordene Routine. Schon jetzt freut sich Johannes Stolz auf seine nächste Messebusfahrt und hofft, dass er wieder die Strecke vom ICC zum Pressezentrum fahren kann. Die hat weniger Haltestellen als die Tour von Halle zu Halle. Und sie ist weniger kurvenreich. „Da muss man nicht so viel kurbeln.“