Mühsame Arbeit statt Schäferstündchen

Ingolf Bollenbach ist einer der letzten Wanderschäfer in Deutschland Und widerspricht jedem Schäfer-Klischee: Von Romantik keine Spur, er kennt weder Urlaub noch Wochenende

Schäferei ist sein Schicksal. Das kann man schon so sagen. Er ist nicht aus Liebe zu den Schafen gekommen, sondern einfach, weil es so sein musste. Ingolf Bollenbach steht, auf seinem Hirtenstab gelehnt, auf einer Wiese neben dem Frechener Bach in der Nähe des Stüttgenhofs bei Köln. Seine blassgrünen Augen wandern immer wieder zu den 300 grasenden Schafen samt ihren 100 Lämmern. Obwohl der Frühling gerade erst begonnen hat, ist seine Haut braun gebrannt und wettergegerbt.

Für einen 56-Jährigen graben sich viele Linien durch sein Gesicht. Sein letzter und bisher einziger Urlaub ist lange her. Als er zwölf Jahre alt war, nahm ihn sein Vater einmal mit in dessen alte Heimat, die Hohe Tatra in der Slowakei – in den vergangenen Jahren war er immer nur für höchstens fünf Tage weg. Schäfer kennen weder Urlaub noch Wochenende. Trotzdem liebt er seine Arbeit: „Mit Tieren zu arbeiten ist das Dankbarste, das der Herrgott einem geben kann.“ Seine Ausrüstung: Arbeitsschuhe mit Stahlkappen, Cargohose, Weste und ein grüner Schäferhut aus Loden. Der ist wasserdicht und schützt vor der Sonne. Immer dabei: ein Taschenmesser, eine Rosenschere für die Klauenpflege, Handy, eine Hundeleine, eine Einwegspritze für Penicillin. Und die deutsche Schäferhündin Senta, sein verlängerter Arm. Ein Schäfer wie Bollenbach ist Hirte, Tierarzt, Hundetrainer, Metzger und Hebamme in einem.

Vor einem Monat ist er mit seinen Schafen rausgezogen aus dem Stall in Lövenich und wandert jetzt mit ihnen über seine gepachteten Kölner Wiesen bis Dezember. Früher hatte seine Familie Weidegründe im Rhein-Erft-Kreis, doch zuerst mussten sie den Frechener Segelflugplatz abgeben, 2011 dann die Wiese am Umschaltwerk von RWE in Brauweiler. Darum zieht der Wanderschäfer vom Land jetzt ironischerweise über die Wiesen der nächstgelegenen Großstadt. Nachts stellt er einen Elektrozaun auf, morgens um sieben schaut er immer zuerst bei seinen Tieren vorbei.

Wenn ein Schaf eine Kolik hat, muss er sofort reagieren. Schon der Weg zum Tierarzt kann zu lange dauern. Oft entscheidet eine Stunde, ob das Tier stirbt oder überlebt. Ein Grund, warum er nie länger als fünf Tage weg ist. Als er einmal von einem Kurztrip zurückkam, waren neun Schafe gestorben. Sein Ersatz-Schäfer hatte sie einfach zu viele Zwiebeln fressen lassen. Die Schafe bekamen eine Kolik und waren am nächsten Tag tot. „Das war schon fast das Einkommen von einem Jahr“, wie Bollenbach lakonisch sagt.

Keine Konferenz, keine Rushhour

Neun Mutterschafe weniger bedeuten auch mindestens neun Lämmer weniger. Und das Fleisch ist die einzige noch rentable Einnahmequelle. Wolle lohne sich nicht, rechnet er vor: Für ein Kilo bekomme man 25 Cent, ein Schafe gebe zwar vier Kilo, aber ein Schafscherer nehme schon 2,50 Euro pro Schaf. Damit könne er nicht mal die Haftpflicht-Versicherung decken. Überhaupt: Man wird nicht Schäfer wegen des Geldes, man muss diesen Beruf lieben, denn reich wird man davon sicherlich nicht: „Zum Sterben zu viel, zum Leben zu wenig“, nur so viel verrät Schäfer Bollenbach über sein Jahreseinkommen.

Vom Stundenlohn ganz zu schweigen, falls man den überhaupt errechnen könne: nicht mehr als zwei bis drei Euro. Außerdem muss man hart im Nehmen sein, bei den bis zu fünfzehn Lämmergeburten täglich, beim Schlachten oder wenn ein fremder Hund ein Schaf gerissen hat – „da würde so manch einer auf Deutsch gesagt kotzen“, sagt Bollenbach. So sind die Schattenseiten der Schäferei schnell aufgezählt, was sind die schönen Seiten? Ein Arbeitsalltag in der Natur ohne Telefonklingeln, Konferenzen, Arbeitsstress oder Rushhour-Stau. „Die harte Zeit sieht man nicht, wenn die Schafe in den Stall kommen und gebuckelt werden muss, sondern nur die idyllische Rosamunde-Pilcher-Schäferei“, Bollenbach schnaubt verächtlich. Auch beim Hüten ist die ganze Zeit etwas zu tun – beispielsweise zu kontrollieren, ob die Schafe ihr Verhalten ändern.

Die einfachste Regel dabei: „Wenn ein Schaf nicht frisst, stimmt etwas nicht.“ Die Anzeichen und Gründe sind vielfältig: Steht oder liegt eines teilnahmslos abseits? Kolik oder bevorstehende Geburt? Humpelt eines? Klauenentzündung oder Verstauchung? Ein schwarzes Lämmchen stakst besonders wackelig herum. Mit seinem Hirtenstab hat er das weglaufende Lamm im Nu am Hals erwischt und gefangen. Tastet es kurz ab, alles in Ordnung. Schon hopst es wieder davon und mäht beleidigt nach seiner Mutter.

Die mühsame Arbeit lässt sich auch an seinen Händen ablesen. Die Haut glänzt ledern, unter den Fingernägeln haben sich Dreckränder gesammelt. Er packt das nächste Mutterschaf an der Keule und schubst das 60-Kilo-Tier rücklings gegen seinen Körper. So kann er dem empört blökenden Schaf, das mit stoischem Blick die Prozedur über sich ergehen lässt, die Klauen schneiden, markiert es mit einem Filzstift am Kopf, fertig. Eines von 300. In drei Monaten sind die Klauen nachgewachsen, dann ist es wieder an der Reihe.

Bollenbachs Handy klingelt. Ein Heukunde will einen Termin mit ihm ausmachen. Hütehund Senta und die Schafe haben seine kurze Unaufmerksamkeit ausgenutzt. Einige Schafe sind Richtung Bahnwall ausgebüxt, um sich an den frischen Grashalmen zu laben. „Senta, da raus!“, er dirigiert sie mit seinem Hirtenstab und hat mit wenigen Kommandos den losen Haufen wieder zu einer Herde formatiert, die blökend hinter ihm hertrottet. Dann lacht er wie ein Zauberkünstler nach einem gelungenen Trick.

Ingolf Bollenbach hatte keine wirkliche Wahl, er ist hineingewachsen in die Schäferei. Weil sein Vater Schäfer ist, hat er von klein auf gehütet. Spätestens als er in der zweiten Klasse nach der Schule nach Hause kam, lag immer ein Zettel auf dem Küchentisch: „Die Schafe stehen am Frechener Flugplatz.“ So verbringt Ingolf seine Jugend alleine. Allein bei den Schafen. Während seine Freunde Fußball spielen, ins Schwimmbad gehen, sich später mit Mädchen treffen. „Am Anfang hab ich geheult, aber irgendwann war ich abgebrüht.“ Als er nach der neunten Klasse die Schule verlässt, hat er trotzdem nur einen Wunsch: Schäfer zu werden – „obwohl mir das meine ganze Jugend versaut hat“. Nicht aus Verpflichtung, nicht aus Romantik. „Das ist einfach in einem drin“, drückt er es aus. Das, was er in seiner Jugend verflucht hat, sucht er jetzt. Er will seine Ruhe haben, für sich sein. Allein unter Schafen.

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