Geschwisterzank

Die Diebstähle in Guben nehmen zu. Deshalb will der Bürgermeister der Kleinstadt im deutsch-polnischen Grenzgebiet wieder stichprobenartige Grenzkontrollen einführen. Aus Guben und Gubin Pamo Roth

Eines Nachts schreckt Fleischermeister Thomas During vom Lärm in seinem Haus aus dem Schlaf hoch. Einbrecher haben seine Haustür eingetreten, um die sechs Fahrräder seines Sohnes mitzunehmen, die zusätzlich an einem eingelassenen Haken an der Wand angekettet waren. During kann die Täter sogar noch sehen, wie sie über die Brücke nach Gubin rennen, dann sind sie verschwunden.

Er hat für sein Handwerk grazile Finger. „Seit 1800 noch was gibt es unsere Fleischerei hier in der fünften Generation.“ Er hat viele polnische Kunden. Mit weißen Gummistiefeln stapft er durch seine Fleischerei in die Kühlräume, zeigt seine Räucherwürste und die Stelle, wo nachts die Fahrraddiebe eindrangen. Als er sein Dach decken ließ, verschwand seine haushohe Aluleiter.

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Fleischer During alarmiert seine Bekannten vom Bundesgrenzschutz, die ihn 25 Minuten später zurückrufen: Seine Leiter liege zersägt in einem Anhänger – wertvoll war hier vor allem das Aluminium. Metalldiebstahl. Einen 300-Kilo-Stahlträger hätten zwei mit Fahrrädern wegtransportiert, erzählt During fast bewundernd. „Doppel-T, drei Meter lang!“ Einmal stellt er einen Dieb in dem Umkleideraum seiner Mitarbeiter, auch dieses Verfahren wird eingestellt.

Die Diebstähle sind ärgerlich, doch During zeigt auch Verständnis: „Das sind doch oft die ganz Armen, die mitnehmen, was sie kriegen können, oft auch besoffen.“ Wenn er so erzählt, klingt das, als rede ein älterer Bruder über den jüngeren. Mahnend, aber doch nachsichtig. Doch irgendwann überholt der kleine Bruder den größeren. Während des Krisenjahrs 2009 ist die polnische Wirtschaft als einzige in der EU gewachsen. Im Ranking der wichtigsten Handelspartner Deutschlands hat Polen vor kurzem Russland überholt.

Guben hat ein Problem, seit der Grenzöffnung 2007 wird mehr geklaut als früher. Kurioserweise nimmt die Kriminalität ab. Gab es 2007 noch rund 28.500 Straftaten, sank die Zahl 2010 auf rund 22.400. Doch die Diebstähle nehmen zu, von 9.900 auf 10.660, und Kfz-Diebstähle sogar von 178 auf 623 – jeder hier kann von Fahrraddiebstählen, Regenrinnen- oder Metallträgerklau berichten. Ein Zöllner wird in der Berliner Zeitung mit den Worten zitiert: „Die klauen hier wie die Raben.“ Die, damit meint er die Nachbarn aus dem polnischen Gubin auf der anderen Seite der Neiße.

Arroganz in Brüssel

Der Gubener Bürgermeister Klaus-Dieter Hübner (FDP) hat deswegen vorgeschlagen, zu stichprobenartigen Grenzkontrollen zurückzukehren. Davon verspricht er sich vor allem eine „psychologische Wirkung“. Seine Kollegen aus Frankfurt (Oder) und Potsdam widersprachen umgehend und vehement. Auch die Polizei lehnte ab. Ob sein Vorstoß, den er selbst einen „Hilfeschrei“ nennt, nicht dem deutsch-polnischen Freundschaftsgedanken widerspreche. „Gerade weil wir Europastadt sind, brauchen wir das. Der Gedanke Europa soll sich verfestigen, nicht das Misstrauen.“

Stolz zählt Hübner die binationalen Errungenschaften der Stadt auf, wie Kitas mit polnischen Kindern: „Es gibt kaum eine Stadt, die Integration so lebt wie wir.“ Vor dem Hintergrund seines Vorschlags klingt das leicht ironisch. Offen bleibt auch, wie Grenzkontrollen helfen sollen, wenn der Anteil der nichtdeutschen Tatverdächtigen nur 13,6 Prozent beträgt, wie die Brandenburger Polizei ermittelte. Sieht er Europa vor dem Zerfall? „Ich hoffe es nicht. Ich beobachte mit Sorge, dass sich die Länder entgegen dem ursprünglichen Ansatz doch auseinanderdifferenzieren.“ Brüssel entferne sich zudem immer mehr von den Ländern. Hübner schnaubt: „Ich habe hier noch nie einen EU-Abgeordneten gesehen – das ist politische Arroganz.“

Siebzig Friseure in Gubin

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Vormittags in Guben. Viele Frauen tragen lila oder blaue Strähnen im Haar, Tattoos an der Wade oder dem Oberarm, die Männer sind sportlich und braun gebrannt. Ein Mann mit zugedecktem Fahrradanhänger fährt Richtung Grenzbrücke, eine Regenrinne lugt hervor, kein Kupfer. Hinter ihm rollt ein Mannschaftswagen der Bundespolizei.

„Perle der Niederlausitz“ wird die 20.000-Einwohner-Stadt in Brandenburg auch genannt. Seit 1991 ist die ehemals florierende Textilstadt zusammen mit ihrem polnischen Pendant Europastadt – im Gegensatz zu vielen anderen Grenzstädten liegt das historische Zentrum im polnischen Gubin, das ebenso viele Einwohner zählt. Gleich hinter der Neißebrücke wirbt ein Schild mit „Zigaretten, Alkohol, Friseur“ – das sind, in dieser Reihenfolge, wohl auch die beliebtesten Geschäfte, die auf der polnischen Seite der Stadt getätigt werden. 70 Friseure soll es in Gubin geben. Umgekehrt überqueren die Gubiner gern die Neiße, um Elektro- und Drogerieartikel auf deutscher Seite einzukaufen. Ins Auge fällt, dass kaum Ausstellungswaren vor den Gubener Geschäften stehen.

Die Polinnen Halina Zinow, 50, und Grazyna Nawara, 52, können sich noch genau an den Tag erinnern, als sie ihre Modeboutique „Chic“ aufgemacht haben. Das war am 2. Mai 2008. Ein Geschäft mit Mode für ältere Frauen fehlte in Guben. Zum Vorschlag des deutschen Bürgermeisters sagen sie, es gebe schon genug Kontrollen, mehr brauche es nicht.

In der Gubener Polizeistation ist Einbruch das bestimmende Thema: „Schlauer gegen Klauer“, „Langfinger machen niemals Urlaub“, „Schlechte Geschäfte für Einbrecher“ titeln die Broschüren direkt am Eingang. Ein Plakat erklärt, wie man sein Fahrrad am besten vor Diebstahl schützt. Überall in der Stadt sieht man Fahrradfahrer. Seit es den Oder-Neiße-Radweg gibt, kommen mehr Touristen, sagt das Tourismusbüro.

Tobi, 18, Mike, Max und Franz, alle 17, sind froh, dass sie gleich neben der Grenze zu Polen wohnen: „Da kriegt man alles, und die Zigaretten sind billiger.“ Doch wenn sie rübergehen, dann ohne Fahrrad, Kette und Basecap: „Das ziehen die ab – sagen, zeig mal deine Kette her, und nehmen sie mit.“ Auf polnischer Seite führt Natalie, 15, ihren Hund Dexter spazieren, sie mag Gubin, Guben aber noch mehr „wegen dem Shoppen“.

Gemeinsame Kläranlage

Anna Dziadek lacht, wenn sie solche Geschichten hört, nicht aus Schadenfreude, sondern weil ihr Blick weiter reicht: „Ohne die Grenze würden beide Städte verlieren.“ Die 37-jährige Polin, die in Posen studiert hat, drei Jahre in Berlin lebte und jetzt für eine deutsche Stiftung zusammen mit zwei polnischen Fördervereinen den Wiederaufbau der 700 Jahre alten und zerbombten Stadt- und Hauptkirche in Gubin begleitet, zählt die weitreichende deutsch-polnische Zusammenarbeit im Kulturellen und ganz Konkreten auf, die weitaus prägender für die Eurostadt Guben-Gubin sei: „Wenn wir Kulturevents wie Konzerte zusammen mit Guben machen, wollen wir etwas für junge Menschen machen und die etwas für ältere.“

Während Guben altert und schrumpft, mausert sich Gubin zum attraktiven Zentrum. Es ist eine Gruppe von jungen Menschen um die 30, die rund um Bürgermeister Bartlomiej Bartczak, 34, das politische und kulturelle Leben in Gubin vorantreibt. Der ist zurzeit in Urlaub.

Man ergänze sich gut, sagt Dziadek. Es gebe eine deutsch-polnische Kläranlage. Auch ihre Baustelle profitiert von der Grenzlage. So hat man eine 48 Meter lange Betonpumpe aus Magdeburg organisiert, um damit den deutschen Beton in das Fundament der Kirche zu gießen: „So etwas prägt das Verhältnis doch viel mehr.“ Der Wiederaufbau wird mit 1,2 Millionen Euro gefördert, und bis Juni 2012 soll der Hauptturm fertiggestellt sein, um als deutsch-polnisches Begegnungszentrum zu fungieren. Zu den Plänen von Bürgermeister Hübner sagt sie: „Er soll 200 Meter weiter denken.“

Das bestätigt auch Janusz Gajda, 33. Er ist seit vier Jahren Direktor des Kulturhauses und mag die EU vor allem wegen des Reisens: „Man kann sich frei bewegen durch ganz Europa, von Polen bis Großbritannien oder Spanien. Und in jedem Land gibt es dasselbe Zahlungsmittel.“ Typisch deutsch findet er: „Wenig Spontaneität. Die planen Kulturveranstaltungen schon ein Jahr vorher. Aber die Polen machen es oft zu kurzfristig.“

Das nächste grenzüberschreitende Projekt ist ein deutsch-polnischer Liedermacherwettbewerb. Zum Teil singen dort auch Liedermacher in sorbischer Sprache. Am Ende des Jahres findet zum dritten Mal der dichterische Wettbewerb „Poetisches Grenzland“ statt. Gajda bietet auch HipHop und Graffiti-Events für Jugendliche an. Er findet es schwierig, dass kulturelle Veranstaltungen auf Gubener Seite zu teuer für die Gubiner sind – 5 Euro sind viel Geld für die sehr viel einkommensschwächeren polnischen Nachbarn.

Es ist Abend geworden in Guben-Gubin, die Brücke überquert niemand mehr, die Fußgängerzone ist verlassen, und irgendwie klingen die Geschichten im Nachhall wie ein Streit unter Geschwistern, bedeutend für den Moment, belanglos für das Verhältnis. Geschwisterzank. Geschwisterliebe.

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