Die Geheimnisse der Mädchen

Als vor vier Jahren der Dokumentarfilm „Prinzessinnenbad“ in die Kinos kam, sahen Tausende Zuschauer drei Jugendlichen aus Berlin-Kreuzberg beim Erwachsenwerden zu. Was ist aus Klara, Mina und Tanutscha geworden?

Prinzessinnen, das sind sie immer noch. Sie warten hinter einer Mauer von Vielleichts, sie lassen sich bitten, vor allem Tanutscha, die Vorlaute mit den Schmolllippen. Ihr Spruch „Ich komm aus Kreuzberg, du Muschi“, zu hören in dem Dokumentarfilm „Prinzessinnenbad“, wurde zum Synonym einer harten Sozialisation in Berlin und verselbstständigte sich auf T-Shirts und Aufklebern.

Als der Film am 31. Mai 2007 in die Kinos kam, wunderten sich nicht wenige Zuschauer über diese Worte aus dem Mund einer 15-Jährigen. Wohlgemerkt, Tanutscha, eine Brigitte Bardot mit Street-Credibility, hatte mit diesem Satz einen Jungen angesprochen. Man sieht die Schöne mit dem trotzigen Blick heute oft die Kreuzberger Oranienstraße entlangklackern, auf hohen Absätzen, es ist ihr Laufsteg.

Meist presst sie dabei ein Handy ans Ohr, in das sie lautstark spricht. Tanutscha hat, wie im Film angekündigt, eine Ausbildung zur Altenpflegerin gemacht und muss viel arbeiten. Über eine Woche lang lässt sie sich zu einem Treffen überreden. Sagt zu, sagt ab, sagt, sie melde sich noch mal. Das Treffen kommt nie zustande.

Vor vier Jahren, als „Prinzessinnenbad“ in die Kinos kam, waren die direkte, ruppige Sprache und das toughe Auftreten eine Art Rüstung für die drei Mädchen. Sie hatten sie sich zugelegt, um sich auf der Straße und gegenüber Jungs durchzusetzen. Inzwischen sind sie vorsichtiger geworden, die Mädchen, fast misstrauisch – auch und vor allem gegenüber Journalisten.

Und Lipgloss natürlich

Mina steht im „Pizza i Pezzi“ hinter der Theke. Sie arbeitet alleine in dem kleinen italienischen Imbiss an der Oranienstraße Ecke Adalbertstraße. Ihr Gesicht ist schmaler geworden, fraulicher, nicht mehr so pubertär rundlich. Bis heute werde sie mindestens einmal am Tag auf den Film angesprochen, sagt sie. Im Pizza-Laden, auf der Straße, in Griechenland am Strand, sogar in Thailand im Dschungel.

Unter der blauen Schürze trägt sie knappe Jeans-Hotpants zu einer schwarzen Strumpfhose, die dunkel-blonden Haare hat sie zu einem Pferdeschwanz hochgebunden. Und Lipgloss hat sie aufgelegt, natürlich. Der spielte schon vor vier Jahren eine große Rolle.

Ohne Lipgloss gingen die drei Protagonistinnen von „Prinzessinnenbad“ nicht auf die Straße, als ein Kamerateam die damals 15-Jährigen über ein Jahr begleitete bei ihrem Erwachsenwerden zwischen Schule, Prinzenbad und Cafés. Der Lipgloss ist eine der letzten Spuren von dem Glanz der Jugend, die jetzt hinter Mina liegt.

Sie ist 20, hat Wirtschafts-Fachabitur gemacht, mit Bravour und einem Notendurchschnitt von 1,5. Ein Hauch von Stolz lässt kurz ihre Wangen erglimmen, als sie davon berichtet. Doch schon hat sie sich wieder gefasst und erzählt wie beiläufig, dass sie noch während der Schulzeit eine Ausbildung an der Internationalen Tourismusakademie begonnen hat. Wenn sie damit im Herbst dieses Jahres fertig ist, will sie International Tourism studieren.

„Mina Bowling. Country Manager – Germany“

Sie möchte ihre Leidenschaft Reisen zum Beruf machen. Das hat sie schon im Film gesagt. Auch damals war Mina die Vorbildliche, die Gewissenhafte, die sich geradlinig auf ihr Abitur vorbereitete, während Tanutscha sich anstrengte, um die nächste Klasse auf der Realschule zu schaffen und Klara ein Schulverweigererprojekt besuchte – „Schwänzer-Schule“ hieß das im Slang der drei Mädchen.

Die Stunden im Pizza-Laden sind nicht Minas einziger Job neben ihrer Ausbildung. Auf der Internationalen Tourismusbörse wirkt sie noch erwachsener als hinter der Pizza-Theke. Sie arbeitet in der Messehalle 1 an einem kleinen Stand unter dem Schild „Brasil Tudo“. Zu ihrem grauen Hosenanzug trägt sie schwarze Samtslipper mit halbhohen Absätzen, die Haare zu einem Dutt hochgesteckt, die Fingernägel dezent mit transparentem Lack überzogen, kein Lipgloss.

Auf Italienisch, Spanisch, Französisch, Englisch und Deutsch umreißt sie Interessierten das Angebot des Reiseveranstalters mit Sitz in Rio de Janeiro. Mit durchgestrecktem Rücken, übereinander geschlagenen Beinen sitzt sie am Tisch, tippt auf die Karte von Brasilien, die vor ihr liegt, fährt mit ihren Fingern darüber und zückt am Ende des Gesprächs ihre Visitenkarte. „Mina Bowling. Country Manager – Germany“ ist darauf zu lesen.

Erst als eine Schulkameradin von der Tourismusakademie vorbeikommt, gleitet die seriöse Haltung von Mina ab. Das freche Kichern zeichnet Grübchen in ihre Wangen. „Mit Mina geht die Sonne auf. Sie ist immer gut drauf, kann alle mitreißen, und sie ist zielstrebig“, sagt die Mitschülerin. Mina ist die einzige in ihrer Klasse, die nicht nur auf der Tourismusmesse ist, um Kontakte zu knüpfen, sondern bereits dort arbeitet.

Später hat sie noch ein Meeting, wie sie es nennt, mit ihrer Klasse und Reiseveranstaltern. Sie zieht einen aufklappbaren Flyer aus ihrer Handtasche, den sie layoutet hat, um sich damit bei Reiseveranstaltern zu bewerben. „Auf der letzten Seite steht meine Adresse. Die kann man abschneiden und als Antwort an mich zurückschicken. Voll praktisch.“

„Wir haben geheult und geschrien“

In ihrem Lebenslauf steht auch „Filmerfahrung“. Den Namen des Films hat sie absichtlich nicht erwähnt. „Wenn man das googelt, landet man sofort beim Trailer des Films und hört ,Kreuzberg, Muschi, Drogenerfahrung, nicht schwanger werden‘ – das ist nicht das erste, mit dem ich in Verbindung gebracht werden möchte.“ Mina weiß genau, was sie will. Und was nicht, erst recht.

Auch Klara hat eigentlich keine Lust mehr, auf den Film angesprochen zu werden. Das passiert ihr immer noch mindestens einmal täglich im Café „Hannibal“, wo sie seit sechs Jahren arbeitet, auch schon während der Dreharbeiten. Eine Straßenecke weiter, die Skalitzer Straße hoch Richtung Schlesisches Tor, sitzt sie zusammen mit Mina im Café „Mano“, die Arme verschränkt.

„Das ging ja schon mit den Plakaten für den Film los“, sagt sie. „Meins war das krasseste Titelbild. Da sah ich total fertig aus.“ Die schmale junge Frau mit dem schwarzen Kapuzenzipper versinkt fast in einer Ecke des Sofas. Beinahe die Hälfte ihres blassen Gesichts verschwindet hinter ihren hüftlangen blonden Haaren, die sie wie einen Vorhang nach vorne fallen lässt, sobald ihr eine Frage unangenehm ist, sie bei einer Antwort unsicher wird oder nach den richtigen Worten sucht.

„Wir haben geheult und geschrien, als wir den Film das erste Mal gesehen haben und wollten nicht, dass er gezeigt wird.“ Sie waren erschrocken über die Szenen und Dialoge, die für den Dokumentarfilm ausgewählt und zusammengeschnitten worden waren – 150 Stunden Drehmaterial komprimiert auf 92 Filmminuten mit vielen sehr persönlichen Gesprächen und ein paar krassen Sätzen.

Sie seien in Rollen gesteckt worden, sagt Klara: „Tanutscha, die Vorlaute, Mina, die Anständige und ich die ganz Kaputte.“ Doch juristisch war alles korrekt: Sie hatten ihre Rechte am Film abgegeben und durften nicht mit über die Auswahl der Szenen bestimmen. Niemandem war damals klar, welcher Erfolg der Film werden würde und was dies für die drei Mädchen bedeuten würde.

Ein Essen mit Jane Fonda

Zu Drehbeginn nahmen sie an, die Dokumentation werde irgendwo im Fernsehen gezeigt. „Ich dachte, der läuft irgendwann mal auf Arte im Spätprogramm“, erinnert sich Mina. Als der Film dann auf der Berlinale 2007 gezeigt wurde, war er ein Überraschungserfolg, er erhielt eine Auszeichnung für die Regiearbeit von Bettina Blümner, er kam anschließend in die Kinos und wurde auch dort bejubelt. Mit nur 22 Filmkopien sahen ihn Tausende.

„96000 Zuschauer“, das weiß Mina auswendig. Er bekam den Deutschen Filmpreis 2008 als bester Dokumentarfilm und wird bis heute in Schulen gezeigt. Natürlich haben die drei Hauptdarstellerinnen die Aufmerksamkeit genossen und das Medieninteresse, das sich plötzlich auf sie richtete.

„Auf dem Roten Teppich bei einem Berlinale-Empfang zu sein und nebenan steht eine Celebrity wie Clint Eastwood, das fanden wir natürlich cool“, sagt Mina. Sie gaben bis zu fünf Interviews am Tag. „Nicht jeder erlebt so etwas mit 16, Champagner trinken, Blitzlichtgewitter vor dem Filmpalast oder ein Essen mit Jane Fonda nach einer Kinopremiere in Wien“, sagt Klara.

Doch der Film hat auch andere Spuren hinterlassen, weniger glanzvolle. Er hat die drei Mädchen verletzbarer gemacht. Das Authentische, die ungestellten Dialoge, die viel gelobte Nähe – all das machte den Film erfolgreich. Klara, Mina und Tanutscha aber haben so ihre Privatsphäre verloren; ihre Geheimnisse kennen nun alle, die den Film gesehen haben.

Ihre „Mädchengespräche“, wie sie das damals schon nannten, konnten sie auf einmal in Filmrezensionen lesen, in Unterrichtsmaterialien wurden sie in ganz Deutschland durchgesprochen, Psychologiestudenten analysierten sie in Uni-Hausarbeiten. Klara ist deswegen bis heute schlecht auf den Film zu sprechen, weil er „ein offenes Buch über uns ist, und ganz Berlin sich ein Bild von uns macht“.

Selbst Regie im Leben führen

Jetzt erzählen die Mädchen nicht mehr einfach drauflos. Sie wählen ihre Antworten mit Bedacht. Sie haben sich eine neue Rüstung zugelegt, die sie schützen soll. Sie haben dazugelernt, sie sind vorsichtiger geworden, kontrollierter. Mina bittet darum, die Zitate vor der Veröffentlichung lesen zu können. Klara will nicht, dass noch mehr Details über ihr Leben in der Zeitung stehen. Nur so viel: „Ich bin spießiger geworden“, sagt sie. „Früher war ich lauter, ausfälliger. Jetzt habe ich Manieren.“

Das komme auch vom Kellnern. Damit finanziere sie inzwischen ihren Lebensunterhalt und ihre eigene Wohnung. Die Hauptschule hat sie abgeschlossen, und sie will vielleicht noch einen Realschulabschluss machen. „Nur für mich, als eine Art Gehirntraining.“

Vor vier Jahren haben sich die Mädchen noch eine Fortsetzung des Films gewünscht, nicht sofort, aber später, um zu zeigen, was aus ihnen geworden ist. Das wollen sie jetzt nicht mehr. Sie wollen es jetzt selbst in der Hand haben, ihr Leben, wollen selbst Regie führen. Und bestimmen, was gezeigt wird und was nicht.

Ein Traum von Mina und Klara ist es, zusammen ein Café zu eröffnen. „Irgendwo zwischen Kotti und Schlesi“, sagt Mina. Das würden sie vielleicht „Prinzessinnenbad“ nennen. Oder auch einfach „Princess“, wirft Klara ein. Nur eines ist sicher: „Jedes Cafe braucht eine Geschichte und unsere gibt es ja schon“, sagt Mina. Vielleicht würden sie in der Getränkekarte die wahre Geschichte erzählen. Wie es gelaufen ist mit dem Film und was schief gelaufen ist.

Blicke, die nur sie verstehen

Als der Fotograf ins „Mano“ kommt, will Klara keine Fotos von sich machen lassen, sie sagt, sie sehe nicht gut aus an diesem Tag. Doch Mina überredet sie und steckt sie an mit ihrer Begeisterung. Mina verschwindet kurz auf der Toilette, mit einem matt glitzernden Täschchen, das sie aus ihrer Handtasche kramt.

Als sie fünf Minuten später wieder erscheint, raunt sie mit verschwörerischem Lächeln auf den glänzenden Lippen: „Bisschen Lipgloss.“ Und strahlt. Gelassen fügen sich Klara und Mina dann dem Blitzlicht und den strengen Anweisungen des Fotografen. Ab und zu erschüttert ein kaum hörbares, verlegenes Prusten die professionelle Pose, ganz kurz nur werfen sie sich dann Blicke zu. Mädchenblicke, die nur sie verstehen.

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Ein Gedanke zu „Die Geheimnisse der Mädchen“

  1. Hallo, Pamoroth.de! 09.07.2018, 18:56 Uhr
    Nachdem ich heute gelesen habe, dass vieles im Film ,,Prinzessinnenbad“ fehlt oder nicht richtig interpretiert wurde oder werden konnte, fände ich es um so interessanter, wenn ,,Mina, Klara & Tanutscha“ die ,,Wahrheit“ filmisch in Szene setzen würden und zwar selbst ,,Regie“ führen würden! Ich würde mich über einen zweiten Teil total freuen, nach so langer Zeit! Es ist ein toller Kultfilm geworden, den ich mir gerade noch einmal auf dem Rechner anschaue! Er erinnert mich tatsächlich an meine Jugend-auch wenn ich anders war!

    Die Schule hat mich ab einem gewissen Alter nicht mehr sonderlich interessiert, gutes Styling war mir wichtig und so hatte ich in den 80ern auch immer eine große Dose Haarspray
    im Lederranzen (die waren damals gerade ,,in“), anstatt schwerer Schulbücher! Später hing ich dann oft in einem ,,alternativen“ Szene-Cafe ab und trank mein Kännchen Tee und ging dann, wenn ich noch Lust dazu hatte zur ,,Hauswirtschaftsschule“, meistens hatte ich aber keine Lust mehr dazu! Das war auch eine reine Mädchenklasse gewesen, ungewohnt für mich!
    Ich habe Jahre später meinen Hauptschulabschluss nachgeholt, erkrankte an ,,Schilddrüse“ und ,,Rheuma“ machte meinen Realschulabschluss nach und jobbte als Obst-und Gemüseverkäuferin, Reinigungskraft, in einer Restaurantküche als Spülfrau, im Sonnenstudio und Privat, während ich auf das Abendgymnasium ging, das ich nicht zu Ende bringen konnte! Denn als ,,Schmerzpatientin“ war ich ständig auf ,,Tramadol“ und konnte mich nicht konzentrieren!
    Da ich chronisch erkrankte, war lange Jahre bei Fachärzten, habe einen Schwerbehindertenausweis, bin mit nur 3 Stunden Arbeitsfähigkeit schlecht vermittelbar und beziehe Arbeitslosengeld2, dementsprechend gibt es kaum mehr eine Perspektive für mein Leben! Dafür aber ständig Probleme mit dem Jobcenter!

    Ich habe es eben genossen und gleichzeitig auch verkackt!

    Mein ,,Migrationshintergrund“ ist Iranisch, denn mein Stiefvater, ein Tyrann kommt aus Persien! (Er hatte meiner Mutter und mir das Leben zur Hölle gemacht! Auch als ich eine kleine Schwester bekam.)
    Meine damalige Freundin und ich können ,,davon“ ein Lied singen, er hat uns beide so gehasst!

    Ich selbst hatte nur problematische Beziehungen in meinem Leben gehabt und noch lange daran zu leiden! Aber…man lebt halt trotzdem!

    Da hätte die Regisseurin Frau ,,Blümner“ wieder ,,neuen Stoff“ um daraus einen weiteren ,,Klischeemovie“ zu drehen! (mit mir in der Titelrolle!!) 😉 😉 😉

    Viele Grüße,
    sugar.

    Anlagen
    ——–
    Hallo! Zuerst einmal möchte ich anmerken, dass ich diese Doku vor Jahren zuerst am TV gesehen habe! Sie hat mir gut gefallen, ich habe sie mir vor einigen Tagen im Internet
    herunter geladen und auch als DVD angeschafft! Es stimmt, dass vieles sehr klischeehaft rüber kommt. Die Protagonistinnen wirken etwas primitiv. Prollig, billig, schlampig und von einer zarten Asozialität! Gleichsam erinnern sie mich an mein Umfeld als Jugendliche und ich versuche mich an ebensolche Mädels zu erinnern! Und werde dabei sogar fündig, denn ähnliche Girlies liefen auch bereits vor über 30 Jahren über den Schulhof! Dümmlich aber geschminkt und in Grüppchen! Ich hatte meistens nur eine Freundin oder war Einzelgängerin! Auch spielten wir nicht ,,Fickmädchen“, jedoch sind ,,Doktorspiele“ ganz normal in diesem Alter und wir wurden früher dabei durch unsere Erziehungsberechtigten gestört–in der Kleinkindzeit! Es würde mich interessieren, was aus den 3 Mädchen geworden ist? Gibt es keinen Teil 2? Viele Grüße, sugar.
    https://www.muenchenblogger.de/bruchteil-eines-lebens-die-darstellerinnen-von-prinzessinnenbad-im-city#comment-14022

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