Anatomie eines Klischees

Bei einer nächtlichen Fotosession im Berliner Stadtteil Neukölln wurde unserem Fotografen ein Teil der Ausrüstung gestohlen. Fünf Meter vom Team entfernt. Unendlich dreist. Plötzlich wurde lebendig erfahrbar, was Schlagzeilen nur andeuten können: Rütli-Schule, Koffer-Leiche, Polizistenmord, No-Go-Area. Was ist nachts in Neukölln los? Berliner Journalistin fuhr eine Schicht lang mit auf Streife

Das Gespräch bricht ab, als das Blaulicht angeschaltet wird und Sirene und Motor gleichzeitig aufheulen. Drei Streifenwagen und des Rettungswagens rasen zum Einsatz. Suizidversuch. Die Feuerwehrleute sind zuerst in der Wohnung. „Pillepalle,“ sagt die junge Frau schleppend. Ihre Stimme klingt belegt. Auf dem Fußboden liegen Plastikbierflaschen, eine halbleere steht neben dem flimmernden Monitor. Der Chat ist noch geöffnet, in dem sie beschrieb, wie sie sich ihre Unterarme aufritzt. Ihr Chatpartner alarmierte die Polizei. „Pillepalle.“ Die Schnittwunden an ihren Handgelenken sind oberflächlich. Sechs Polizisten und vier Sanitäter drängen: Die junge Frau soll zur Untersuchung mitkommen. Ihre Abwehr kennt nur ein Wort: „Pillepalle.“

„Die traurige Wahrheit ist, wir fahren tatsächlich nur raus, wenn Menschen in Gefahr sind oder der Täter noch vor Ort“, sagt Streifenpolizist Eric. Bei Raub ohne Verletzte, Sachbeschädigungen oder Diebstahl müssen die Opfer zur Wache kommen. Die Wache, das ist der Abschnitt 54 der Polizeidirektion 5 in der Sonnenallee in Nord-Neukölln. „Das größte Sozialamt Deutschlands“, nannte das Nachrichtenmagazin ‚Der Spiegel’ einmal diesen Stadtteil Berlins. Als „Ghetto“ glorifizieren es die Gangster-Rapper. Statistisch ist es der Bezirk mit dem größten Anteil von Bewohnern mit Migrationshintergrund und den meisten Straftaten. Die Schlussfolgerung ist einfach, die Begründung kompliziert.

Konstruktion der Medien

Eric hat 23 Jahre in diesem Bezirk als Zivilfahnder im Bereich ‚Operative Gruppe Jugendgewalt’ gearbeitet. Jugendbanden, Hehlerei, Dealerei, organisierte Kriminalität beobachtet, Straftäterkarrieren begleitet. „Ich kenne meine Kandidaten.“ Der 43-Jährige erzählt halb nostalgisch, halb zynisch von einer arabischen Großfamilie: „Sie sind auch einmal dreist ins Adlon reinspaziert und haben den Wandteppich abgehängt.“ Die Frage nach den Ursachen der Kriminalität ruft ein Lächeln hervor. „Das klingt natürlich gleich rassistisch. Aber wir haben nur mit der Klientel zu tun, auf die das Klischee zutrifft: kriminelle Araber, straffällige Türken und Griechen. Zu dem freundlichen arabischen Gemüseverkäufer, der noch nie ein Gesetz übertreten hat, werde ich ja nicht gerufen.“ Man habe stillschweigend der Bildung einer Parallelgesellschaft zugesehen. „Da sind wir selber schuld. Sogenannte Integrationspolitik habe ich hier nie gesehen.“ Von 200 Läden in der Sonnenallee haben vielleicht zwei deutsche Inhaber: „Die Menschen hier gehen zum arabischen Arzt, machen ihren Führerschein auf Arabisch und gucken arabisches Fernsehen.“ Von gesetzlosen Zonen will er aber nichts hören: „Das ist Unsinn. Es gibt keine Straßen, in die sich die Polizei nicht traut. Das ist eine Konstruktion der Medien.“ Natürlich gebe es unterschiedliche Gefahreneinschätzungen und in bestimmte Situationen werde nicht ein Streifenwagen geschickt, sondern zwei. Aber die in Medien skandalisierte Bildung von Mobs sei nichts Neues: „Dass Bekannte herbeitelefoniert werden bei Auseinandersetzungen mit der Polizei oder einer Festnahme, das gibt es, seit es Handys gibt.“

Frank, Erics Chef, kritisiert die Sensationsgier der Medien: „Die Tageszeitungen berichten immer nur über das aktuelle Ereignis, nie wird die Frage nach dem Warum gestellt.“ Sein Lösungsvorschlag angesichts 50 Prozent Neugeborener mit Migrationshintergrund in Berlin: ‚School-Bussing’. „Konkret: Neuköllner Schüler nach Wilmersdorf auf die Schule fahren und umgekehrt, “ sagt er. In Nord-Neukölln lebten 86 Prozent mit einer nicht deutschen Herkunftssprache, da sei es kein Wunder, dass ein „problembelasteter Wohnkiez“ entstehe. Frank empfiehlt eine Doppelstrategie: Arbeit in die Kieze bringen und die ethnische Monokultur aufbrechen. „Bei einem 13-Jährigen Intensivtäter mit 20 Straftaten ist der Zug abgefahren. Den kann man nur noch einsperren oder nach Sibirien zum Holzhacken schicken.“ Polizisten können keine Ursachen beseitigen. Wenn sie eingreifen müssen, ist es schon zu spät. Eric nennt Polizisten „Handwerker“. Sie beheben den akuten Schaden. Für die Prävention sind andere zuständig.

21:03 Uhr. Ein Rumäne ist bei einem Ladendiebstahl gefasst worden und muss erkennungsdienstlich behandelt werden. Fingerabdrücke werden abgenommen und sein Gesicht aus mehreren Perspektiven fotografiert. ‚ED-Behandlung’ mit hochmodernem Gerät. An Tagen wie dem 1. Mai mit den traditionellen Straßenschlachten wird im Drei-Minuten-Takt „behandelt“. Normal sei aber eine dreiviertel Stunde.

Ärgerlich findet Eric, wenn er die Zeitung aufschlägt und Sätze liest wie: „Die Polizisten schossen mit Maschinengewehren und warfen eine Bombe.“ Er schnaubt verächtlich: „Das sind völlig untypische Formulierungen, die kein Polizeibeamter benutzt. Ich habe in meinen gesamten Dienstjahren noch kein einziges Maschinengewehr gesehen – und was soll das sein, eine Bombe?“ Gemeint sind Schnellfeuerwaffen und Blendgranaten. Frank erzählt belustigt von Polizeiserien wie „CSI Miami“: „Völlig unrealistisch. So simpel, wie da Beweisketten erstellt werden, ist es nie.“

23:15 Uhr. Unfall mit Fahrerflucht. Das unfallverursachende Fahrzeug liegt nach neben dem beschädigten Auto: Ein Fahrrad mit verbogenem Lenker, daneben eine zerplatzte Bierflasche, eine Plastiktüte mit zwei Flaschen Apfelschnaps. Der ist Täter flüchtig und wohl niemals zu fassen. Ein Fall für die Akten. Dass jemand den Knall des Aufpralls gehört hat und den Täter gesehen hat, bezweifelt Steffi, Erics Streifenpartnerin. Sie ist 28 Jahre alt und seit zehn Jahren bei der Polizei. Unisono antworten beide: „Das interessiert keinen.“ Vor zwei Wochen waren sie in derselben Straße. Vandalismus. Zwei angetrunkene Jugendliche traten Spiegel von Autos ab und zerkratzen Lack. Die Täter wurden an der nächsten Ecke gefasst. Weil sie unter 21 Jahre alt seien, fallen sie unter das Jugendstrafrecht. „Aber die Wirklichkeit ist in den Gerichtssälen angekommen.“ Am 1. Februar fiel der Startschuss für die juristische Schnellverfahren in Neukölln: Innerhalb von 14 Tagen werden jugendliche Straftäter von der Jugendrichterin Kirsten Heisig verurteilt. Früher vergingen Monate, manchmal Jahre bis zum Prozess.

Medien und Wirklichkeit

Eine Zunahme der Jugendgewalt will Eric nicht bestätigen. Das Abziehen sei weniger geworden. Kämpfe zwischen Jugendbanden auch. Einen leichten Anstieg sieht er nur bei den Überfällen auf Drogerien. Medien und Wirklichkeit – manchmal zwei verschiedene Welten. Nur in einem Punkt gibt er der Berichterstattung Recht: „Die Brutalität hat zugenommen. Geprügelt wurde früher genauso viel, aber die Gleichgültigkeit gegenüber einem Menschenleben ist größer. Früher gab es ein paar hinter die Ohren, heute hast du ein Messer im Bein.“

Die Jugendliche testen ihre Grenzen wesentlich weiter aus. Der Grund sei fehlender Respekt. „Wenn ich mit Jugendlichen spreche, spucken sie auf den Boden, kratzen sich an den Genitalien und sagen: ‚Was geht, Alter?’“ Von Präventionsveranstaltungen gegen Gewalt, ließen sie sich nicht mehr beeindrucken – wie auch? Oft habe er morgens Jugendliche aus einem verwahrlosten Elternhaus abgeholt: „Die Matratze liegt in der Ecke, darauf reihen sich drei Kinder, Frühstück hab ich nicht gesehen.“ Es fehle an Erziehung und Werten. Die Armut besorge den Rest.

Die Matratze – Symbol für seelische Verwahrlosung

00:17 Uhr. Ein junges Pärchen hat beobachtet, wie jemand von einem Balkon mit einer Waffe schießt. Der Mann entschuldigt sich: „Es ist mir ein bisschen peinlich die Polizei zu rufen. Wir wohnen immerhin in Neukölln. Aber ich habe Angst, dass es eine richtige Waffe ist, keine Schreckschusspistole. Wegen des Lärms ist mir das Rumballern egal.“ Als Eric die Straße überquert und an dem Haus klingelt, nähert sich wankend ein junger Mann. Während er nach seinem Schlüssel kramt, muss er sich mit einer Hand an der Hauswand abstützen. „Ich glaube das ist unser Kandidat. Als wir ankamen, ging er aus diesem Haus“, raunt Eric Steffi zu. „Als Zivilfahnder erkennt man seine Schweine am Gang“, wird er später sagen.

Er bittet den jungen Mann, die Tür aufzuschließen. „Nö. Ich hasse die Polizei“, schnauzt dieser Eric an und wankt davon. Nachbarn lassen die Polizisten ein. Doch die Wohnung ist leer. Als die Polizisten zurück im Hausflur sind, lehnt der Verdächtige an der Wand. Überprüfung der Personalien. Die Situation eskaliert. „Du Opfer! Du Missgeburt!“ Eric muss handgreiflich werden. Aus der Hosentasche kommt eine Dose mit Schreckschuss-Munition zum Vorschein. Unter dem Pullover die Waffe. „Ey Alter, in Frankreich hätte ich dich so was von blank gelegt!“ Das Geschrei wird lauter, der Kopf des Jungen rot. Er wehrt sich gegen den Griff in seinem Nacken. Das sicher gestellte Gut fällt Eric aus der Hand. Er ächzt, verlangt die Handschellen von Steffi und Verstärkung. Der Junge ist jetzt am Boden fixiert, Gesicht nach unten, Hände auf dem Rücken. Eric kniet auf ihm. Der Junge versucht, nach Eric zu treten, und schreit: „Arschgeburt! Deine Mutter ist eine Nutte. Deutsche Missgeburt, machst ne tolle Show!“ Er klingt wie ein Kid aus den Banlieus. Dabei ist er vor 19 Jahren in Neukölln in eine deutsche Familie geboren. Der echte Ghetto-Gangster inszeniert als Migrant: Street-Credibility. „Dem Intellekt nach zu urteilen, ist er nicht politisch motiviert“, konstatiert Eric später.

Obwohl schon seit Jahren hier gemeldet, sieht es aus, als wäre Thomas M. gerade eingezogen. Die Wände sind kahl. Auch hier gibt es statt eines Betts nur eine Matratze auf dem verdreckten Boden: Symbol für Armut und seelische Verwahrlosung. Im Kleiderschrank zwei säuberlich gefaltete T-Shirts, ein Pullover. Der Kühlschrank ist fast leer. Auf dem Tisch liegen in einer Bierlache Mahnungen wegen Schwarzfahrens und Anwaltsschreiben. Ein Stapel ungeöffneter Post daneben. „Man sieht schon einige die Schattierungen der Gesellschaft“, sagt Eric lapidar, doch sein Gesicht zeigt leichte Fassungslosigkeit. „Es gibt Kandidaten, bei denen ist Hopfen und Malz verloren, da hilft auch kein Campus Rütli mehr.“ Aus dem Vorstrafenregister geht hervor: Thomas M. ist Schwarzfahrer, hat ein Drogenproblem, eine Anzeige wegen Bedrohung und war selbst einmal Geschädigter eines Überfalls, „Opfer“ wie er es selbst nennt. Das schlimmste Schimpfwort auf Neuköllns Straßen.

Point of no return

2:55 Uhr. Notruf. Hilflose Person. Ein Mann liegt auf dem Boden. Aus dem aufgerissenen Hosenbein des Betrunkenen quillt Blut. Das Gesicht ist voller Schorf. Der obdachlose Lette wehrt sich gegen die Behandlung im Krankenwagen. „Is’ mein Problem.“ Eric bittet einen Feuerwehrmann, das Hosenbein aufzuschneiden, um zu beurteilen, ob die Wunde genäht werden muss. Der Helfer erwidert: „Nein, der soll die Hose ausziehen, sonst hat er ja gar nichts mehr zum Anziehen.“ Auch das ist tätige Hilfe.

3:30 Uhr. Notruf. Häusliche Gewalt. Der Wohnblock ist berüchtigt. Viele Osteuropäer melden sich dort. Wer hier wirklich wohnt, weiß niemand. Ein junger Mann winkt dem Streifenwagen. Er zeigt auf die Wohnungstür, aus der er die Schreie der Frau gehört hat und wispert: „Ich will keinen Ärger mit dem.“ Dann geht er. Auf Klingeln und Klopfen wird nicht geöffnet. „Polizei. Wenn Sie nicht aufmachen, kommen wir rein.“ Jetzt öffnet ein junger Mann, Würgemale am Hals. Im Flur Spuren eines Kampfes. Aus dem Wohnzimmer ein Schluchzen. Steffi kümmert sich um die junge Frau, die dort auf einer Matratze liegt: „Es ist nicht passiert, ich habe Schmerzen, weil ich meine Tage habe.“ Die Frau bleibt bei dieser Version. Aus Angst. Aus Loyalität. Wer weiß.

Ihr Mann ist einer von Erics „Kandidaten“: Mit 13 Jahren klaute er die ersten Roller. Später war er Mitglied der Gullideckel-Bande. In geklauten Luxus-BMW raste man nach München. Dort wurden mit Gullideckeln Fenster von Tabakgeschäften eingeworfen. Mit den geklauten Zigaretten ging es zurück nach Berlin. Eric erzählt wie von einem alten Bekannten. Anfang 20 und schon zwei bis fünf Jahre im Gefängnis. „Point of no return“, murmelt Eric. „Man braucht ein dickes Fell, versucht die Probleme nicht mit nach Hause zu nehmen. Ich möchte einfach heile wieder vom Dienst kommen.“ Er trägt eine kugelsichere Weste unter dem Hemd. Schutz gegen innere Spuren bietet sie nicht.

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