Wer von der malawischen Hauptstadt Lilongwe zum Kamuzu Central Hospital will, muss durch die »Sargstraße«, die »Coffin Road«. Sie wird auf beiden Seiten von den Reklameschildern der Handwerker gesäumt. »Makers of the last home« ist da zum Beispiel zu lesen. Dahinter zimmern Männer unter freiem Himmel in der brütenden Mittagshitze Särge aus Kiefernbrettern. Die Nachfrage ist groß, gerade hier, in Sichtweite des Krankenhauses. Nur derjenige, dem es richtig schlecht geht, nimmt die Anstrengung und die Kosten auf sich, aus einem abgelegenen Dorf in die Hauptstadt zu kommen. Meist ist es dann jedoch zu spät, so dass die Reise nicht selten in der »Coffin Road« endet.
Der Vorplatz des Krankenhauses ist jeden Tag voller Menschen. Manche kümmern sich um ihre kranken Angehörigen, die sie hierher begleitet haben, andere wurden entlassen und warten auf eine Mitfahrgelegenheit, die sie sich leisten können. 85 Prozent der Bevölkerung Malawis lebt auf dem Land, und für die allermeisten ist Mobilität ein Luxus. Das Land im Südosten Afrikas ist eines der ärmsten der Welt mit einem durchschnittlichen Einkommen pro Kopf von weniger als 150 Euro im Jahr.
Das Treiben in und um das Krankenhaus erinnert an die Geschäftigkeit eines Bahnhofs zur rush hour. Malawierinnen mit Kinderbündeln auf dem Rücken, aus denen wippende nackte Beine und Köpfe lugen, meistern das Kunststück, im Sitzen, Stehen oder Gehen noch ein weiteres Kind zu stillen. Um 12 Uhr mittags öffnen sich die Türen des Krankenhauses für die draußen wartenden Angehörigen, die beladen mit Schüsseln und Töpfen hineinströmen. In den Krankenhäusern gilt das Prinzip der Selbstversorgung, ebenso wie in Gefängnissen. Patienten wie Häftlinge sind auf die Unterstützung von Angehörigen angewiesen. Der Essensdampf mischt sich mit dem säuerlichen Schweißgeruch, der über den Gängen des Krankenhauses liegt.
Der Internist Patrick Ingiliz ist 32 Jahre alt und arbeitet seit acht Monaten in diesem Hospital. Er ist einer von insgesamt elf Ärzten, die im Auftrag des deutschen »Centrums für internationale Migration und Entwicklung« in Malawi tätig sind. Sein Arbeitstag beginnt mit einer Visite auf der Intensivstation. Hier gibt es weder eine Klimaanlage noch ein Gerät für die Elektro-Kardiographie, dessen Piepsen in jeder Krankenhaus-Soap anzeigt, ob sich ein Patient in einem kritischen Gesundheitszustand befindet. Vier Patienten teilen sich ein Gerät, das den Kreislauf überwacht.
In dem Raum ist es still und stickig. Nur das Summen der Fliegen ist zu hören, die über das Gesicht einer bewusstlosen Frau schwirren. Sie ist Anfang zwanzig, alleinstehend und wurde in bewusstlosem Zustand gefunden. Bei sich hatte sie einen Brief: »Ich habe Tabletten genommen, weil ich nicht mehr von Männern abhängig sein will.« Die Verzweiflungstat einer Prostituierten, ein versuchter Mord? Es gibt keine Strafanzeige und schon deshalb keine Antwort. Gegenüber von ihr liegt ein 15jähriger Junge, der kurz und stoßartig atmet. Als er eingeliefert wurde, befand er sich im diabetischen Koma. Seine Zuckerkrankheit wurde zu spät erkannt, seine Situation ist lebensgefährlich. Seine Arme haben den gleichen Durchmesser wie seine Handgelenke. Nur mit Mühe findet Ingiliz eine Vene, um Blut abzunehmen.
Zwar hat Malawi ein durchschnittliches Entwicklungshilfeeinkommen im medizinischen Bereich von 70 Millionen US-Dollar jährlich. Einer inoffiziellen Statistik zufolge kommen aber nur 30 Prozent des Geldes oder der Medikamente tatsächlich bei den Patienten an. In den Krankenhäusern mangelt es oft an den einfachsten Schutzmaßnahmen, selbst Handschuhe und Desinfektionsmittel sind rar, so dass jede Blutabnahme für die Ärzte und Pfleger ein gewisses Risiko bedeutet. Schließlich beträgt die HIV-Rate der Bevölkerung 15 Prozent. Und diese Zahl sagt nicht viel über die wirkliche Infektionsrate aus, denn sie beruht auf den Fällen, die von der Weltgesundheitsorganisation dokumentiert sind.
Einer Statistik der UNAIDS zufolge, einer Organisation der Uno, die sich um die statistische Erfassung der weltweiten HIV-Epidemie kümmert, wissen im subsaharischen Afrika neun von zehn Menschen nicht, ob sie mit HIV infiziert sind. Viele haben schlicht Angst vor einem positiven Befund, bei anderen überwiegt das fatalistische Gefühl, dass auch eine Infektion nichts an ihrem Leben ändern würde. Doch der wichtigste Grund dafür, dass sich Menschen nicht testen lassen, ist die noch immer unzureichende Aufklärung über HIV. So empfiehlt Staatspräsident Bingu wa Mutharika auf einer übergroßen Werbetafel auf der »Coffin Road« als Präventionsmaßnahme: »Abstinenz, Abstinenz und noch mehr Abstinenz!«
Weil den Familien oft das Schulgeld für alle Kinder fehlt und die Wege weit sind, besucht nur jedes zweite malawische Kind eine Schule. Nur knapp 40 Prozent aller Malawier können lesen und schreiben. Nach wie vor kursieren Mythen über die Heilung von Aids. Es vergeht keine Woche ohne Medienberichte über vergewaltigte Mädchen. Dahinter steht oft der grausame Irrglaube, dass Sex mit einer Jungfrau eine Infektion mit HIV heilen könne. Auch über das richtige Verhalten bei anderen Krankheiten weiß man wenig. Im frisch gestrichenen Krankenhausflur hängen selbstgemalte Plakate, die beispielsweise über diabetische Ernährung aufklären. Bananen, Erdnüsse und Fische sind darauf abgebildet, damit auch Analphabeten die Botschaft verstehen.
Gegen Mittag wird ein Notfall eingeliefert. Es ist Steven, ein 17jähriger Junge, dessen Alter man aber nicht erkennen kann. Sein ganzes Gesicht ist geschwollen, seine Augenpartie ist lila unterlaufen. Auch bei ihm wurden die krankhaften Anzeichen zu spät ernst genommen, so dass seine Nierenunterfunktion chronisch geworden ist. In jedem wohlhabenden Land hätten regelmäßige Ultraschalluntersuchungen und Kontrollen der Nierenwerte einem Nierenversagen vorgebeugt.
Immerhin ist durch ein Institut der Universität von North Carolina, das dem Krankenhaus angegliedert ist, eine schnelle Bestimmung der Blutwerte möglich. Das ist eine der kleinen Gesten, die das US-amerikanische Institut als Gegenleistung dafür bietet, dass es hier nahezu unbegrenzt an Aidskranken forschen kann. Denn Bluttests sind in Malawi ein Luxus, den nur wenige Krankenhäuser anbieten können. Computertomografie gibt es nur in Blantyre, der wirtschaftlich stärksten Stadt des Landes.
Das benachbarte Institut mit seiner keimfreien und durch Klimaanlagen gekühlten Luft, seiner blitzsauberen Einrichtung und modernen Apparaten erscheint im Vergleich zur mit menschlichen Ausdünstungen angereicherten Hitze des Krankenhauses wie ein Ufo aus einer anderen Welt. Hier summen leise technische Messgeräte, im Gegensatz zu dem unentwegten Klatschen von Plastiksandalen auf den Gängen des Kamuzu Hospitals.
Steven wimmert. Aber er bewegt sich kaum, als die Nadel eingestochen wird. Er ist zu schwach. »Er blutet aus dem Zahnfleisch und übergibt sich, wenn er etwas isst«, sagt seine Mutter. Ein Foto auf der Rückseite ihres Mobiltelefons zeigt einen hübschen, schmalgesichtigen Jungen, der keine Ähnlichkeit mit dem Kranken aufweist. Mit zittriger Stimme telefoniert sie mit Bekannten, um einen privaten Spender zu finden, der Blut für ihren Sohn geben kann.
Zwar wurde vor drei Jahren mit dem Geld der EU eine Blutbank errichtet. Aber als in letzter Zeit die freiwilligen Spenden ausblieben, hat sich wieder das System der Verwandtenspenden durchgesetzt. Nur wer spendewillige Verwandte hat, überlebt, was den Druck auf diese erhöht, Blut zu geben, ohne eine mögliche Infektion zu erwähnen.
Als er noch an einer Universitätsklinik in Deutschland arbeitete, war Ingiliz täglich für 20 Patienten verantwortlich, zusammen mit drei Ärzten, einem Oberarzt und drei Schwestern. Hier ist er alleine mit 120 Patienten und hat fünf Schwestern und vier clinical officers, die ihm zur Seite stehen. Auf einen Arzt kommen in Malawi 62 000 Einwohner, in Deutschland sind es 275. Die clinical officers haben nach einem Highschool-Abschluss eine dreijährige Ausbildung absolviert. Mangels Personals müssen sie oft ärztliche Aufgaben übernehmen, für die sie überhaupt nicht ausgebildet sind.
Dass Menschen wegen den einfachsten Krankheiten sterben, gehört zum malawischen Alltag. Auch auf den Fluren des Kamuzu Central Hospitals hört man ständig Menschen, die um ihre verstorbenen Angehörigen weinen. Das allgegenwärtige Sterben, das durch die hohe HIV-Rate vor allem die produktive, jüngere, sexuell aktivste Bevölkerungsschicht trifft, hat die Wahrnehmung des Todes sichtbar verändert. Zu den medizinisch begrenzten Mitteln gesellt sich eine gewisse Gleichgültigkeit, die sich auch im Krankenhaus bemerkbar macht: Krankenakten lagern stapelweise in einem unverschlossenen Raum, lebenswichtige Medikamente werden nicht verabreicht, weil die krankenhausinterne Apotheke gerade keinen Dienst tut oder weil es schlicht vergessen wird.
»Hier gibt es keine würdige Behandlung. Dahinter steckt ein ganz krasses Menschenbild. Wer hier liegt, ist arm, und wer arm ist, ist nichts wert«, sagt Ingiliz. »Nicht nur zwischen Afrika und dem Norden gibt es den Unterschied von Arm und Reich, sondern auch innerhalb der afrikanischen Gesellschaft.«
In den Gesichtern der Angehörigen zeigt sich keine Verzweiflung. In großen Gruppen um die einzelnen Krankenbetten versammelt, missachten sie die überall ausgehängte Krankenhausregel »One patient – one guardian«. Lachend und durcheinander redend besuchen sie Patienten, wechseln mit Urin getränkte Laken und versuchen, so gut es geht, für die Kranken zu sorgen und sie aufzuheitern. Zwischen ihnen spielen Kinder. Auf dem Boden stehen Schüsseln und Töpfe mit Essen.
Eine Gruppe von Angehörigen folgt einem Arzt, der den Bereich für Tuberkulosekranke besucht. In westlichen Ländern werden Tuberkulosepatienten in Einzelzimmern hinter einer Schleusentür untergebracht, hier sind die Zimmer mit Krankenbetten und Matratzen überfüllt. Zum Schutz gegen Regen und Wind sind die Balkone mit Brettern vernagelt, dennoch sinken in den kühleren Jahreszeiten die Zimmertemperaturen auf fünf Grad Celsius. Um eine Infizierung durch Anhusten zu verhindern, gibt es am Ende des Balkons einen Holzverschlag. »Coughing room« steht darauf, die Tuberkulosepatienten können ihn zum Abhusten nutzen.
Am Nachmittag untersucht Ingiliz die 20jährige Linda. »Wenn sie etwas isst, weint sie vor Schmerzen«, sagt ihre Mutter. Das Mädchen redet nicht. Leblos liegen ihre Hände in einer Schüssel mit Bohnen und Nsima. Dieser Maisbrei ist die malawische »Nationalspeise«, von der es heißt, sie setze ungeahnte Kräfte frei.
Tief liegen Lindas Augen in den Höhlen. Ihre Wangenknochen stechen scharf aus dem eingefallenen Gesicht hervor. Sie hat Aids. Vor einem Monat ist sie wegen eines Krebstumors am Gallengang operiert worden. Danach hat sie eine Chemotherapie gemacht, und seitdem geht es ihr schlecht. Sie verliert Gewicht. Ihre Finger spielen mit dem Nsima in der Schüssel. »Sie hat Hunger, aber sie hat Angst vor den Schmerzen«, sagt ihre Mutter. Auch Linda fehlte nach der Operation eine Blutspende, um wieder zu Kräften zu kommen. So konnte sie sich nie wirklich erholen, wurde kränker, obwohl der Tumor nach der Therapie kleiner war. Wenn sich daran nichts ändert, verhungert sie. »Bei den begrenzten medizinischen Mitteln stellt sich die Frage, ob es Linda ohne Chemotherapie nicht besser gegangen wäre für die Zeit, die sie noch zu leben hat«, meint Ingiliz.
Im Kamuzu Central Hospital scheinen sich nur Zustände verändern zu lassen, nicht die Verhältnisse. Es führt die Begrenztheit des entwicklungspolitischen Systems vor Augen. Auch Entwicklungsgelder und gespendete Medikamente können nicht alle Hindernisse ausräumen, die durch fehlende Bildung, Versagen der Regierung und traditionell gefestigte, oft religiöse Strukturen aufgebaut werden.
Der Junge im diabetischen Koma stirbt zwei Tage später. Wie er hieß? »Ich weiß es nicht«, sagt Ingiliz. »Es sind zu viele, und du kannst es nicht an dich ranlassen. Die sind da, und wir sind hier. Das kann man nicht vermengen, sonst dreht man durch.«
Langsam senkt sich die Hitze, und das Hämmern und Sägen auf der »Coffin Road« verstummt allmählich. Im »Best Coffin Workshop« wurden heute drei Standard- und zwei Kindersärge gebaut. Einer kostet 2 500 Kwacha, umgerechnet etwa 17 Euro. Nur selten arbeiten die Sargbauer auf Bestellung, sie produzieren einfach, denn die Nachfrage bleibt stetig.