„Hass“ hat er sich ausgesucht als Name, unter dem er in der HipHop-Community auftritt und der ihm Credibility verschafft: „Das ist der Hassan, alles was er sagt, hört sich nach Hass an“, intoniert der 17 Jahre alte Hassan Akkouch rhythmisch. Seinen Rap unterstreicht er mit weit ausholenden Gesten. Seine Finger formen Zeichen nach – unverständliche Codes für Außenstehende. Dazu klimpern die zwei blitzenden Anhänger, mit den Umrissen vom Libanon und einem Schwert, die er an einer breiten Silberkette um seinen Hals trägt. Hassans Familie kommt aus dem Libanon, er ist im Alter von einem Jahr nach Deutschland gekommen und in Neukölln aufgewachsen. Er darf Berlin nicht verlassen, weil er nur eine Duldung hat. „Neukölln ist meine Heimat“, er spricht ohne Hast mit der langsamen Rhythmik und Gestik der Rapper bei MTV, die im Laufe eines Interviews immer tiefer in die Sofas sinken. Seine gewellten Haare glänzen von der Pomade.
Neukölln – das ist die fleckige, rissige Haut der nackten Betonwände. Das sind türkische oder arabische Satzfetzen, die aus dem Hinterhof durch die Durchfahrten hallen, das ist das Gezirpe aus Singvogelkäfigen an den Balkonen und das Röhren der aufgetunten BMWs auf dem Kottbusser Damm. Neukölln ist aber vor allem der Mythos, der den Duft des harten Lebens in den sozialen Brennpunkten verströmt. Von der „Endstation Neukölln“, wie das Nachrichtenmagazin Der Spiegel 1997 getitelt hat, heißen neuerliche Labels: „Zentrum des sozialen Niedergangs“ (arte) oder „Krawalle der Berliner Banlieue“ (Bayrischer Rundfunk): „Hoher Ausländeranteil, mangelnde Integration, brutale Bandenkriminalität, Drogenmafia – du hast keine Chance, aber nutze sie“ – und beschwören die Frage, wann die gettoisierten Vororte Berlins so brennen wie die New Yorker Bronx oder die Pariser Banlieue.
Bonjour Tristesse
Hass – Rap-Pseudonym von Hassan –, so heißt auch ein französischer Film von Mathieu Kassovitz über die brennende Pariser Banlieue: Eine sozialkritische Gesellschaftsstudie in schwarz-weißen Bildern über das Leben in den tristen Beton-Trabantenstädten: Hier leben sozial schwache Gruppen, die wegen der niedrigen Mieten in diese Wohngettos abgedrängt wurden, vor allem Immigranten und Arbeiter. Diesen Film kennt Hassan nicht, dafür aber kennt er den Neukölln-Film von diesem Jahr, der wie eine Neuauflage von „Hass“ von der Tristesse der Großstadt-Schattenseiten erzählt: „Knallhart“ von Detlev Buck. Dieses Sozialdrama nutzt und spielt mit den Klischees vom harten, hoffnungslosen Neukölln in den verschiedenen Lebensbereichen. Familie wird in „Knallhart“ entweder inszeniert als ein Hort der Gewalt oder als peinliches Anhängsel, das schamvoll ignoriert wird wie bei dem Bandenchef Erol, der seine Frau samt Kindern sich selbst überlässt, während er auf der Straße rumlungert.
Diametral dagegen steht die Verantwortung und der Respekt, den Hassan seiner Familie entgegenbringt: Seit der Vater gegangen ist, ist der Minderjährige der Hauptverantwortliche der Familie, er kümmert sich um die allein erziehende und an Epilepsie erkrankte Mutter, gibt Breakdance-Unterricht und er ist der Pressesprecher der Familie: Hassan wurde vom Jugendkanal des ZDF über Spiegel online, die Tageszeitung und den Tagesspiegel durch die Medien gereicht. Die Geschichte seiner Familie samt behördlichem Jargon spult er professionell herunter: Zwar hat die Härtefallkommission für ein Bleiberecht plädiert „aus humanitären Gründen“ und wegen der „extremen Integration der Familie“, der Innensenat hat jedoch dagegen entschieden. Durch den aktuellen Krieg im Libanon ist die Abschiebung jetzt bis Februar aufgeschoben – bis dahin hat Hassan noch Zeit, die Verantwortlichen über die Medien zu überzeugen, dass er hier hingehört – nach Berlin, nach Neukölln, nicht in das Land, mit dem er nichts verbindet. Darum habe er sich Hass als Rapper-Namen ausgesucht: „Egal, wie intergriert ich bin, ich werde trotzdem abgeschoben: der Fall Hassan oder der Hass-an-fall.“
Das Neukölln-Drama „Knallhart“ degradiert Schule entweder zu einem Nebenschauplatz über Dinge, die man in der Jugend lernen müsste, aber nicht lernt, oder zu einer Kulisse für Schlägereien und das Abzocken von Mitschülern. Für Hassan bedeutet Schule eine Perspektive und seine einzige Chance, um nach der abgelaufenen Duldung bleiben zu dürfen, falls er einen Ausbildungsplatz hat. „Schule ist meine Zukunft, sonst kann ich Döner schneiden geh’n“, sagt er.
Auch Freundschaften kommen in „Knallhart“ nur als schizophrene Begegnungen vor: Als der Außenseiter Michael zum Drogenkurier aufsteigt, bricht er seine einzige Freundschaft mit einer lapidaren Begründung ab. Umgekehrt wacht er bei seinem Peiniger Erol, der ihn vom ersten Schultag an gequält hat, die ganze Nacht bis zum Morgen, als sei es sein einziger Freund gewesen – nachdem er ihn erschossen hat. Aber Freundschaften sehen für Hassan anders aus. Einer seiner besten Freunde ist auch eines von Hassans Vorbildern: Bektas, der ihm Rappen beibringt. Umgekehrt ist Hassan Vorbild für migrantische Jugendliche, denen er Breakdance zeigt: „Freundschaft ist, wenn man sich auf jemanden verlassen kann.“
Ehrlichkeit zählt
Bektas legt Wert darauf, dass er aus dem Wedding kommt. Er ist 31 Jahre alt und mit einem Jahr aus der Türkei nach Berlin gekommen. Er fühlt sich als „Kanake“ und verurteilt in seinen Raps die Klischeezuschreibungen, die um Menschen anderer Herkunftsländer gesponnen werden:
„Du triffst Kanaken, guckst auf den Boden,
ist das ein Zufall,
du hast keinen Respekt vor Kanaken,
nein, du hast Angst.“
Dieses knallharte Image ist bereits gierig kommerzialisiert worden von HipHoppern, die sich als brachiale Gangster gerieren und sich Kiez-Fame auf die Brust schreiben wollen, wie es das Weddinger Musik-Label „Shok Muzik“ tut: „Krass, krasser, SHOK!“ Mit Stücken wie „Komm in mein Getto“ und „Friss die Klinge“ soll eines deutlich werden: Es gibt auf der Straße entweder „Opfer, Täter oder Verräter“. Auch Bektas kultiviert eine gewisse Street-Credebility, grenzt sich aber gegen die stereotype Konstruktion von den Gangster-Rappern ab, was er in seinen Raps thematisiert:
„Ich könnte um die Ecke kommen
mit ‚nem echt gekonnten: wie geht es Ihnen?
Ich könnt’ auch jeden Deppen fronten
Und einfach nur Klischees bedienen.“
Ob in den Medien, im Kino oder im Gangster-Rap – ein Schreckensgespenst von in Gewalt versinkenden Gettos aus Parallelgesellschaften wird an die Wand gemalt – man riecht die brennende Banlieue. Doch trotz unzureichender Integration und einer überwiegend migrantischen Bevölkerung in Neukölln lässt sich die Situation nicht 1:1 übertragen. Neukölln is in Germany – der Stadtteil ist kein Getto, keine Parallelwelt aus einem fremden Land – zurzeit avanciert Neukölln sogar zu einem trendigen Zuzugsort für Studenten und Künstler, die Kunst-Galerien, launische T-Shirt-Shops und unkonventionelle Friseur-Läden nach sich ziehen.
Der Grund dafür, dass Neukölln oder auch andere Problemviertel wie Wedding oder Kreuzberg nicht mit der Pariser Banlieue vergleichbar sind, ist städtebaulicher Natur: Banlieues sind in Beton gegossene Gettos mit schlechter Infrastruktur, mangelndem kulturellem Angebot für Jugendliche und einer Konzentration bestimmter ethnischer Gruppen. In Berlin forciert Quartiersmanagement in den Problemkiezen eine Integration und Zusammengehörigkeit unterschiedlicher Ethnien. Und eine hohe Kiezidentifikation verhindert, dass Menschen mit steigendem Einkommen in andere Stadtteile ziehen. Zudem sind Migranten/innen auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland besser integriert, auch wenn diese soziale Gruppe die höchste Arbeitslosenquote aufweist. So sind es wohl weniger städtbauliche Ausgrenzung oder materielle Isolation, die eine Kommunikation zwischen Menschen mit deutscher oder nicht-deutscher Herkunft verhindern, sondern die Schranken im Kopf, die sich aus Vorurteilen nähren und Klischees bedienen – oder wie es Bektas in einer Rap-Strophe fasst:
„Meine Vorurteile,
wenn ich Worte schreibe,
sind deine Engstirnigkeit,
und deine Vorurteile.“