Dem Verfall verfallen

Sie steigen in verlassene Industrieruinen ein, um ihnen Geheimnisse zu entlocken. Urban Explorer bewegen sich in einer Grauzone des Verbotenen. Die 15-jährige Celia Gonzales ist mit ihrer Kamera in Köln unterwegs

Unter den Schuhsohlen knirschen Scherben, an anderer Stelle knacken Betonkrümel unter den Schritten, die durch das leere Industriegebäude hallen. Regen plätschert durch das offene Dach. Ab und an ächzt das Gebäude, als lebte es. Der Atmosphäre einer verlassenen Industriebrache kann man sich kaum entziehen.

Unwillkürlich laufen Bilder vor dem inneren Auge ab, wie es hier wohl mal ausgesehen haben muss, als noch alles in Betrieb war, die großen Maschinen noch arbeiteten, die Halle voller Menschen und Lärm war. In der Leere fühlt man sich fast noch beobachtet von den Menschen von einst, allein ist man jedenfalls nicht. Schon durch die Geräusche, die noch von überall her klingen. „Man hat eben immer Angst, gesehen zu werden, und kann auch schnell mal durchkrachen, weil der Boden morsch ist“, sagt Celia Gonzales.

Deswegen ist die 15-Jährige immer nur zu zweit unterwegs, meist mit ihrem Vater. Auch wegen der Gestalten, die sie auf ihren Exkursionen schon oft getroffen hat. Sie ist schon allen möglichen begegnet. Akt-Fotografen, Kupferdieben, Security-Männern, Kiffern, Fixern, Graffiti-Sprühern und Obdachlosen. Meist grüßen die anderen sie nicht, sondern gehen wortlos vorbei. Fühlen sich gestört.

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Celia wurde in einem stillgelegten Industriewerk im Rhein-Erft-Kreis mit dem Urban Exploring infiziert. Es war das erste Objekt, das die Kölnerin besuchte. Zu dem ist sie nun zurückgekehrt, ausgerüstet mit einer Kamera. Jetzt hat sie an der Hallendecke eine stehengebliebene Uhr entdeckt, sie zeigt fünf vor zwölf. Unfreiwillig versucht man den Objekten einen symbolischen Sinn zu verleihen. Auch eine Treppe, die ohne Stufen zu einer Empore heraufführt, fasziniert sie, und sie probiert davon verschiedene Perspektiven mit der Kamera aus.

Celia kniet sich in den mit Ölschlieren durchzogenen Modder auf den Boden. „Mich entspannt das hier, ich fühle mich immer relativ wohl, aber auch, weil ich die Location kenne“, sagt die blasse Frau mit den schwarzen Haaren und dem dazu passenden breiten schwarzen Lidstrich.

Die Schönheit des Morbiden

Sie sind die modernen Entdecker in einer Welt, die bis in die letzten Winkel erforscht ist, hier versuchen sie vor allem der bebauten urbanen Fläche Geheimnisse zu entlocken. Die Urban Explorer, – deutsch: Städteerforscher – gehen dabei behutsam vor. „Take nothing but photos. Leave nothing but a footprint.“ So lautet der Ehrenkodex. Nimm nichts mit außer Fotos. Lass nichts zurück außer einem Fußabdruck. Was ist die Faszination an den verlassenen Orten, den Industrieruinen? Ist es die Ästhetik des Verfalls? Die Schönheit des Morbiden? Oder der Kick des Illegalen?

Denn die Urbex, wie sie sich nennen, bewegen sich in der Grauzone des Verbotenen, wenn sie in verlassene Gebäude einsteigen. Oder ist es die Suche nach unverfälschten authentischen Orten, die sich selbst überlassen wurden. Und die langsam vor sich hinrotten und von der Natur zurückerobert werden. Zumindest löst die Subkultur immer eine Kontroverse aus: Ist das gut, was sie machen, oder ist es schädlich? Während Kritiker ihr Naivität vorwerfen, Selbst-Heroisierung und Kriminalität, verteidigen andere sie als Inspiration, weil sie darauf hinweisen, dass die Stadt den Menschen gehört, die darin leben. Viele Urbexer beschäftigen sich auch mit Vergangenheit und Geschichte der Gebäude – und so ist das Aufsuchen verlassener Orte auch immer eine Auseinandersetzung mit den Menschen, die hier mal gelebt oder gearbeitet haben, mit den Geistern der Vergangenheit.

Dabei stehen die Urbexer in einer hehren Tradition. Haben doch schon die Vanitas-Künstler des Barock einer morbiden Ästhetik gehuldigt, verwelkende Stillleben, verfallene Gemäuer, Symbole der Vergänglichkeit in Bilder gebannt – um an die Sterblichkeit zu erinnern.

Bei Celia war es nicht die große Geschichte, es war einfach Intuition. Vielleicht auch einfach nur Spaß. Ein Cousin fotografierte verlassene Gebäude, sie machte es ihm nach. „Und ich bin drauf hängengeblieben“, wie Celia sagt. Am meisten interessiert sie die Architektur, aber auch das Spiel von Licht und Schatten. „Ich versuche auf den ersten Bildern, den Eindruck der ganzen Location wiederzugeben, später mache ich dann auch oft Detailaufnahmen“, sagt sie.

Sie mag die Farben, das Grün der Natur, die sich oft gewaltsam von außen hereindrängt. Steine mit ihrer Wurzelkraft wegsprengt, den morbiden Verfall. Aber das ist ein schmaler Grat. Es darf auch nicht zu sehr zerstört sein. „Je mehr verfällt, desto eintöniger und kahler werden die Räume.“ Man muss die Existenz des Vergangenen noch nachempfinden, noch fast greifen können.

Das ist besonders in verlassenen Villen in Belgien der Fall, in denen sie in diesem Sommer war. Das Mekka der Urbexer. Oft sind die noch vollständig eingerichtet und verleihen den Eindruck, als seien ihre Bewohner erst vor kurzem aufgebrochen. Unvermittelt und unumkehrbar.

Doch die Subkultur der Urban Explorer ist nicht unbedingt harmonisch. Argwöhnisch wachen sie über die Informationen und Adressen zu verlassenen Gebäuden. Zu Recht. Sonst wäre es auch schnell um die Einsamkeit geschehen. Ein angefragter Urban Explorer blafft die Autorin an. „Ich habe keinen Mehrwert davon, wenn ich Orte verrate.“ Celia hat auch schon unangenehme Erfahrungen gemacht. „Es gibt viel Neid“, sagt sie. Ihre Facebookseite „Lost Places Köln“, auf der sie ihre Fotos hochlädt, hat knapp 4.000 Likes. Schon deswegen wurde sie oft angefeindet von anderen Urbexern.

Sie bittet auch darum, im Artikel nicht die Namen der besuchten Orte zu verraten, aus Angst, in der Szene Ärger zu bekommen. Umgekehrt tauscht sie sich aber auch mit einigen Urbexern, denen sie vertraut, über neu entdeckte Lost Places aus. Doch die Subkultur ist in Gefahr. Denn mit dem zunehmenden Hype um verlassene Orte werden die immer weniger verlassen, teilweise überrannt.

„Das sind katastrophale Zustände“, sagt ein bekannter Urbexer, der anonym bleiben will, und erzählt ein besonderes Beispiel eines Hauses in Belgien, in dessen Scheune seit Jahren ein 50 Jahre alter Mercedes SL stand, der mindestens 50.000 bis 100.000 Euro wert war. Nachdem Fotos in der Szene auftauchten, war er innerhalb von ein paar Tagen komplett auseinandergenommen. „Was seit ewigen Zeiten in Frieden ruht, wird innerhalb kürzester Zeit zerstört“, kritisiert er. In einem Chateau, das seit zehn, 20 Jahren unberührt war und bekannt wurde, wurden Statuen zerschlagen. Sobald eine Location in der Szene bekannt würde, „ist sie gestorben“, sagt der Urbexer.

Bewegung am Abgrund

Lost Places sind verlassene und auch verlorene Orte, die wiederentdeckt werden können. Doch inzwischen wird oft dadurch der letzte verbliebene Zauber getilgt. Unfreiwillig, aber auch unumkehrbar. Er selbst ist seit drei Jahren dabei, „sehr intensiv“, was sich an bis zu 200 besuchten Orten und bis zu 30.000 zurückgelegten Kilometern im Jahr ablesen lässt. Seine Facebookseite hat fast 8.000 Likes. Der 48-Jährige arbeitet als Wirtschaftsprüfer und beobachtet eine zunehmende Popularität. „Man sollte die Szene nicht verdammen, es sind nur wenige schwarze Schafe, aber es gibt einen Zwiespalt.“

Es gibt diejenigen, die seit Jahren als Urbexer unterwegs sind und ihr Wissen über die Orte nicht weitergeben, und es gibt die neuen, die fluchen, weil sie Locations suchen und es nicht einsehen, dass sie verheimlicht werden. Also gibt es immer welche von ihnen, die sie veröffentlichen. Teilweise würden sie sogar gegen Geld angeboten, sagt er. „Das sind Auswüchse, das entsetzt die, die seit langem dabei sind und die Bewegung schützen wollen“. Er selbst gehört auch zu den Neuen, respektiere und schütze aber die Orte. Die Subkultur sei nicht homogen. Den Explorern geht es um die Entdeckung, das Abenteuer, sie treibt die Neugier an. Die Ästheten wie ihn interessieren die Fotomotive. Und andere fasziniert der historische Hintergrund. In Psychiatrien in Italien, in denen noch die OP-Tische stehen und man weiß, was dort passiert sei, strahlten die Orte an sich etwas aus. Er selbst sei oft angespannt, gerade an heißen, also illegalen Orten. „Ich brauche nicht den Kick“, sagt er. Aber ihn bestürzt, dass die Bewegung sich auf ihren Abgrund zubewege. „Es ist kurz vor zwölf.“

Eines dieser populären Ziele, das sich durch seine Popularität selbst abgeschafft hat, ist ein sogenanntes Geisterhaus in Köln. Um das hat Celia immer einen Bogen gemacht, es soll dort spuken, weil dort mehrere Menschen ermordet worden sein sollen. An diesem Tag wagt sie es. Es ist komplett verrammelt. Wegen der Heerscharen, die über das einstige Gutshaus herfielen. Aus dem Gemäuer sprießen ganze Bäume, deren Wurzeln sich den Weg durch die Steine gegraben haben. Die herausgebrochenen Fenster ohne Scheiben wirken wie leere Augenhöhlen. Doch gruselig ist etwas anderes. Was vielleicht auch an der benachbarten tosenden Straße und der Tageszeit liegt. Der Zauber ist jedenfalls schon längst verflogen. Verloren.

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