Was passiert, wenn man kopfüber unter einer Zirkuskuppel hängt, viele Meter über der Manege, ohne Netz und doppelten Boden? Vor allem, wenn man dann die Hände loslässt, nur an den Zehenspitzen am Trapez hängt und dabei auch noch nach unten rutscht? Aber von Anfang an.
Der Zirkusdirektor Robby Ortmann, der einfach nur Robby genannt werden will, ist ein Zirkuskind, aufgewachsen in der Mange und ein Artist in jeder seiner Bewegungen. Aber der 38-Jährige hat auch eine Mission: Er will Menschen, vor allem Kindern, die Angst nehmen. Seit zehn Jahren führt er den Schulzirkus Lollipop. Sein Traum, als Artist in einem amerikanischen Zirkus in 14 Metern Höhe am Trapez ohne Netz zu arbeiten, scheiterte an der Gesundheitsprüfung, nicht an seinen artistischen Talenten. Wegen einer unbedeutenden gesundheitlichen Schwäche durfte der damals 28-Jährige nicht in die USA einreisen.
Also gründete er seinen eigenen Zirkus. Darin lehrt er Kinder in ganz Deutschland, wie sie ihre Ängste überwinden und Grenzen überschreiten können, um Vertrauen und Selbstbewusstsein zu gewinnen – indem er ihnen Zirkusnummern beibringt.
Robby ist ein kleiner drahtiger Mann. Er steht breitbeinig und braun gebrannt im Scheinwerferlicht, umgeben von den leeren Zuschauerrängen des Zirkus, der an der Edith-Stein-Grundschule in Frechen gastiert. Sein Blick ist wachsam und ich vertraue ihm bereits nach einer halben Stunde mein Leben an, obwohl er kaum größer ist als ich. Vielleicht liegt es an der Sicherheit, die er ausstrahlt und mit der er sich in der kleinen Manege bewegt, während er ab und zu ruhige und knappe Befehle gibt. Vielleicht liegt es aber einfach nur an den Geschichten, die er erzählt.
Einmal hat er mit einem Jungen aus Solingen eine Nummer einstudiert. „Er war ein verbranntes Kind“, sagt Robby. Ein Großteil der Haut des damals Elfjährigen war verbrannt, nachdem er sich an einem Grill verletzt hatte. Seitdem ging er nicht mehr in die Schule, sondern wurde zu Hause unterrichtet, weil er Angst hatte, sich zu zeigen. Er hatte eigentlich vor allem Angst.
Robby übte mit ihm eine spezielle Zirkusnummer ein – mit Feuer. Das, wovor er sich am meisten fürchtete. „Du hast Angst vor dem Feuer, also lernst du, es zu kontrollieren“, sagte Robby zu ihm. Nach einer Woche stand der Junge in der Manege, als Fakir, der sich mit den Feuerstöcken über die Arme fuhr und Feuer spuckte. Seitdem geht er auch wieder in die Schule. „Er hat sich mit seiner Angst konfrontiert und gelernt, mit seinem Makel umzugehen“, sagt Robby. Bis heute haben er und der inzwischen 17-Jährige, der nun selbst als Betreuer mit Jugendlichen arbeitet, engen Kontakt.
Doch zurück in die Manege. Funktioniert ein solcher Zauber auch bei einer kritischen Journalistin, die zwar keine Höhenangst im weitesten Sinne hat? Immerhin bin ich als Fünfjährige schon begeistert vom Fünfer im Bornheimer Schwimmbad gesprungen und vor 15 Jahren sogar mal aus einem Flugzeug – 2000 Meter über Kassel-Calden. Allerdings fällt mir heute der Sprung vom Fünfer nicht mehr ganz so leicht und der Fallschirmsprung ist schon lange her. Außerdem waren über Kassel-Calden nur Wolken aus dem Flugzeug zu sehen. Etwas, das ich mich allerdings niemals trauen würde, wäre ein Bungeesprung – weil der Boden, auf den man zurast, genau zu sehen ist. Das würde sozusagen bedeuten, eine Todesangst zu überwinden. Aber Robby fängt damit ganz simpel an.
Das Trapez hängt auf Augenhöhe und Robby gibt knappe und ruhige Anweisungen: Auf die Stange setzen, Beine nach außen, Hände an die Seilen, nach hinten fallen lassen, mit den Händen in der Mitte anfassen, Fußspitzen in den Seilen einhaken, Hände loslassen. Trara! Schon hänge ich kopfüber mit der Nase kurz über dem Boden der Manege, so dass ich die Kunstfasern des roten Teppichs riechen kann.
Ist ja ganz einfach, bis das Trapez hochfährt und ich mich vorsichtig erkundige, wie das eigentlich ganz genau ist, wenn ich von oben falle. „Dann stehe ich unter dir und fange dich auf.“ Klingt einleuchtend, aber ein wenig mulmig wird mir schon, wenn nicht gar etwas schwindelig. Der Radius der roten Manege wird kleiner und die hölzerne Trapezstange, auf der ich sitze, scheint filigraner und schmaler zu werden. Dank des Kreidepulvers sind meine schweißnassen Hände aber wenigstens rutschfest. Das Trapez hängt jetzt an der höchstmöglichen Position unter der Zirkuskuppel, die Stange immerhin in fünf Metern, die mir höher vorkommen. Wie geprobt folge ich den Anweisungen von Robby. Doch als ich die Hände loslasse, rutschen meine Füße plötzlich wegen des kräftigen Rückwärtsschwunges am Seil herab, bis der Spann auf die Stange knallt. Mein Herz rutscht in die Hose, aber ich hänge. Das Blut schießt mir in den Kopf und mein Magen fühlt sich flau an. Aber durch meinen Körper scheinen nur Adrenalin und Glückshormone zu fluten, denn mein Lächeln wird immer breiter – trotz latenter Übelkeit und schmerzender Knöchel.
Ich werde übermütig und möchte das Ganze am schwingenden Trapez versuchen. Doch als ich dort schaukelnd hänge und mich auf Robbys Befehl wieder hochziehen will, bin ich anscheinend zu langsam. Denn ich spüre nur einen reißenden Schmerz in meinem rechten Oberschenkel und die fehlende Kraft, mit meinen Händen die rettende Trapezstange zu greifen.
Wie ein nasser Sack baumel ich hilflos vor und zurück, das Blut in meinem Kopf pocht merklich „Das war wohl nichts“, sage ich kleinlaut zu Robby. „Weil du nicht auf meine Anweisung reagiert hast, sondern zu spät. Dann sind die Fliehkräfte zu stark“, erklärt er. Fliehkräfte? Ich merke nur zunehmend die Kräfte der Erdanziehung, die mich in Richtung der Manege schmerzhaft an meinen Fußspitzen nach unten ziehen.
Robby ist ein geduldiger Mensch. Er strahlt Optimismus aus, aber sieht die Welt keineswegs rosarot. Im Gegenteil. Er hat einen durchaus kritischen Blick, der durch seine jahrelange Arbeit im Schulzirkus soziologisch geschärft wurde: „Hyperaktiv und motorisch immer unfähiger“, lautet sein Urteil über die heutige Generation von Kindern. Natürlich nicht generell, aber tendenziell nähmen diese Eigenschaften zu. „Früher konnte jedes Kind einen Purzelbaum schlagen. Heute sind viele doch nur noch mit den Daumen geschickt“, sagt er und ahmt das Daddeln mit dem Gameboy nach. „Das ist hier auf dem Land nicht so schlimm, aber vor allem in Großstädten noch extremer“, sagt er. Dort könnten die Kinder oft kaum gerade laufen oder gar auf einem Bein balancieren, weil sie überwiegend auf Asphalt spielen und nicht über unebene Wiesen laufen würden.
Aus diesem Grund lernen die Kinder beim Zirkusdirektor zuallererst Körperbeherrschung und den Gleichgewichtssinn zu trainieren. Einen Vormittag übt er mit ihnen einen aufrechten Gang und zu stehen, ohne die Hände in den Hosentaschen oder nach dem Handy zu greifen, mit geradem Rücken und aufmerksamem Blick. Aber auch Teamfähigkeit vermitteln die artistischen Nummern, bei denen es oft darauf ankommt, sich auf denjenigen zu verlassen, auf dessen Schultern man beispielsweise bei der Pyramide steht. Umgekehrt müssen die Kinder auch Verantwortung für die anderen entwickeln – und Ehrgeiz.
Am Anfang der Zirkuswoche ging es noch drunter und drüber. „Das ist ja auch kein Wunder bei Vorbildern wie Bushido oder Sido, da hast du schon verloren“, sagt Robby. Die Kinder müssten Vorbilder wie Sportler oder Weltraumfahrer haben, die etwas Besonderes gemeistert haben, und zu denen sie aufblicken könnten. Etwas Besonderes erfuhr auch die achtjährige Lea aus der Klasse 3a der Edith-Stein-Grundschule, die sogar einmal vom Trapez fiel. Ihr passierte nichts, weil Robby sie auffing. Und dann? „Ich habe einfach weitergemacht“, sagt sie.
Nach einer Woche Schulzirkus haben die Kinder Durchhaltewillen entwickelt und gelernt, ihren Ängsten zu begegnen. Und nicht zu vergessen: Disziplin, zumindest für die Zeit ihres Zirkusauftritts.
Mit der hapert es bei mir anscheinend noch gewaltig, denn dank meines Unwillens, nicht augenblicklich auf den Befehl von Robby zu gehorchen, hänge ich immer noch mit hochrotem Kopf, einem zunehmendem Rauschen in den Ohren und Schwindelgefühl kopfüber am Trapez und baumel´ vor und zurück. „Jetzt!“ Auf Robbys Befehl schnelle ich hoch – und tatsächlich, es geht ganz einfach. Die rauen Fasern des Seils fühlen sich großartig in den Handinnenflächen an. Die leichte Oberschenkelzerrung nehme ich gar nicht wahr.
Als das Trapez gen Boden fährt, lächele ich immer noch ziemlich breit. Verpatzt, aber trotzdem stolz über meine halbe Trapeznummer. Man braucht weder Spotlight noch Dieter Bohlen, um sich wie der Nabel der Welt zu fühlen. Was kann einem da noch passieren?