Es ist still im Töddenhaus „Haus Nieland“ in Hopsten. Im Flur hängen drei Fettschwarten unter der Decke. Auf dem Gasherd in der Küche köcheln Kartoffeln und Gemüse auf kleiner Flamme. Daneben auf der Eckbank sitzt Tödden-Theo und stippt Erdbeeren ab mit einem kleinen geschwungenen Messer. Sein Gesicht ist voll, rot angelaufen vom Bluthochdruck, ausgeprägte Backen, ebenso die Lippen und kleine schnell hin und her wieselnden Augen. Der Seitenscheitel ist akkurat gezogen. Doch spätestens wenn der 1928 Geborene zu reden anfängt, donnert ein Grollen durch den Raum – er rollt das ‚R’, als sei es der Startvorgang eines Rasenmähers. „Warrrrum ich Tödden-Theo genannt werde? Wenn man sich hier im Dorf für etwas interessiert, nennen einen die Leute so. So ist das entstanden.“ Dann stützt sich der 84-Jährige ächzend mit seinen riesigen Pranken auf den Tisch und stemmt sich von der Eckbank hoch, kippt einen mächtigen Schub Zucker auf die Erdbeeren und schlurft hinaus auf die Bank vor seinem Haus. Auf dem Weg weist er nicht ohne Stolz auf die zahlreichen geschossenen Trophäen hin, unzählige Geweihe von Rehen, Damm-Hirschen, aber auch ein ausgestopfter Fasan, Biber, Wiesel, Frettchen, Eule und Eichhörnchen harren regungslos im großen Flur. Theo Greß charakterisiert die Menschen hier als bodenständig, kleinbürgerlich – „aber die Leute hier halten zusammen, egal ob auf der Kirmes oder dem Feuerwehrfest!“
Seine Frau hat das Haus mit den grünen Fensterläden geerbt, das so groß und mächtig gebaut wurde, dass die Menschen im Dorf es Poggeburg nannten. Es ist eines der ältesten Häuser des Dorfes und soll auf die Karolingerzeit zurückgehen. Datiert ist es nicht. Doch der reiche Tödde Hermann Poggemann, 1680 geboren, wollte sich ein Haus wie eine Burg bauen – und erschuf den Seitenflügel. Dessen Ursprung ist die einzige Altersangabe, das Jahr 1743. Hinter dem Haus, das als Wasserburg, Gutshaus und Pfarrhaus genutzt wurde, ist ein Garten mit Obstbäumen und Hühnern. Auch der Dichter Josef Winckler tagte hier mit seinen poetischen Kameraden. Kein Wunder. Wein rankt sich um die weißen Holzrahmen der Fenster, Stauden und Blumen umrahmen das Haus. In seiner Idylle könnte es einem Märchenbuch entsprungen sein – zusammen mit seinem mächtigen Hausherren. Doch Tödden-Theo muss wieder hinein in die gute Stube. Am Nachmittag kommen ihn einige seiner neun Enkel besuchen, da gibt es noch einiges zu tun.
Geranien wirken wie das Klischee gewordene Sinnbild von Spießigkeit
Die Vorgärten hier im Münsterland sind so ordentlich bepflanzt und die Rasenränder so akkurat geschnitten wie mit einem Nasenhaarrasierer nachgezogen. Sogar die Kirchenbänke sind mit Namensschildern versehen – getrennt nach Männern auf der rechten, Frauen auf der linken Seite. Die Sitzordnung herrscht schon lange nicht mehr. Doch der Geist, der hier durch die Vorgärten und gesteiften Gardinen weht, ist ein strenger -spießig würde man es wohl als Außenstehender nennen. Geranien winken wie das Klischeegewordene Sinnbild aus Balkonkästen. „Was Heimat ist? Hier gibt’s nichts Spannendes. Hier ist nichts los. Es ist klein, ruhig, son Familiendorf“, kräht Lisa, 15, durch ihre Zahnspange und an dem Kaugummi vorbei. Mit ihren Freundinnen sitzt sie in dem Eiscafe „Bella Italia“ im Ortskern. Außerdem gibt es noch eine Metzgerei, einen Imbiss, mehrere Restaurants und Bäckereien und das „Schnitzelparadies“. Jugend auf dem Land kann manchmal grausam sein. Die Feuersirene ertönt. Danach Kirchenglocken. 12 Uhr Mittags. Die akustische Chronologie auf dem Dorf.
Hopsten, das knapp 8.000-Seelen-Dorf ist bekannt und reich geworden durch die Tödden, Wanderkaufleute und Hausierer, die nach dem 30-jährigen Krieg mit dem hier produzierten und aus Bielefeld stammende Leinen über das Land zogen gen Holland. So grüßen einen hier nicht nur mehrere Töddenfiguren, sondern auch im Wappen der Stadt wandert einer mit Pfeife in der Hand und Kniebundhosen. Nicht in Kniebundhosen, aber mit langem Gewand wirkte hier außerdem der Sozialbischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler drei Jahre bis 1849. Der Name der Stadt soll auf das Sumpf- und Moorgebiet zurückgehen, weil damals nur auf Anhöhen gesiedelt werden konnte – auf einen „Hop seten“ – so entstand das Dorf. Die Bevölkerung ist nicht ohne. „Man muss mit jemanden erst einen Sack Salz gegessen haben, bevor man sich versteht“, sagt man über die sturen Westfalen hier, die nicht wirklich schnell warm werden mit einem. Der Dorfpolizist Norbert Bednorz mit Schnauzbart bescheinigt dem Ort eine unspektakuläre Kriminalitätsstatistik. „Mit Alkohol sind die meisten Klamotten.“ Es sei ein angenehmes Städtchen. „Das ist ein umgängliches Volk, hier herrscht Friede.“ Soweit die Ordnungsbehörde.
Hinter Hopsten erstrecken sich die Felder. Der Handelsweg der Tödden führt schnurgerade durch die Felder, die sich bis zum Horizont ziehen, abwechselnd Weizen und Mais, gold, grün, gold. Das Land ist so eben, dass der Blick sich in der Ferne verliert, begrenzt nur durch die Pappeln am Horizont. Hier sehe man, wer einen am nächsten Tag besuchen kommt, lautet eine landläufige Weisheit und sie manifestiert sich unausweichlich, wenn man auf dieser weiten Flur unterwegs ist. Zehn Störche staksen vornehm über ein frisch gemähtes Feld. Das Land ist still bis auf das Sirren des Windes in den Pappeln am Wegesrand. Es riecht nach Gras und Heu. Nur manchmal weht eine säuerlich–süße Fahne von Dünger von einem der Gehöfte, die sich breit wie Kuhfladen unter Baumgruppen ducken. Zwei Heidschnucken liegen ausgestreckt im Schatten und träumen. Siesta. Die Mittagshitze scheint das Land lahmgelegt zu haben.
Nur nicht in der Luft. Es trillert, zwitschert und jubiliert, als hätten auch die Vögel gerade ihren letzten Schultag. Kein Wunder, sind doch weite Teile des Landes Naturschutzgebiet. Das 88 Hektar große Naturschutzgebiet Troghahn entlang der Niederungen der Hopstener Aa zählte zu den wichtigsten Brutplätzen für Wiesenvögel im westlichen Tecklenburger Land. Hier haust der Kiebitz, der Brachvogel, die Nachtigall und die Rohrweihe.
Wenn es eine heile Welt gäbe, wäre sie wohl hier oben im Münsterland
Kurz vor Rheine liegt am Ende einer schattigen Allee das Kloster Bentlage. Die Kühle des Steingemäuers atmet Frömmigkeit. Doch hier ist nicht mehr der heilige Geist zuhause, sondern Künstler, die sich in ihren Werken verwirklichen. In der Nähe rinnt immer noch Solewasser durch zwei Salinen und kristallisiert sich als glitzernde Salztropfen am Holz. In der Ems stehen drei Angler wie Statuen im Wasser, kurz dahinter plantschen Kinder am Strand. Hier wird gepaddelt und gerudert. Die Ems ist in Rheine das Zentrum der Stadt, deren Fußgängerzone über eine Brücke führt. Das Tor, das in die 76.000-Einwohner-Stadt führt, sieht aus, wie man sich das Schloss aus Kafkas bürokratischem Horrorroman vorstellt. Unangreifbar hoch und mit nur kleinen blinden Fensterchen. Die Stadt hingegen pittoresk und bilderbuchschön. Auf dem Marktplatz hat sich eine Gruppe Jugendlicher versammelt und möchte Aufmerksamkeit und Sensibilität für Homophobie und Rassismus schaffen. Eine Regenbogenfahne kladdert im Wind hinter dem Jungen mit der großen Sonnenbrille: „Gerade auf dem Land ist das Thema Homophobie besonders groß“, sagt Kay Schmidt, 20, vom Projekt Liebesleben. Die Stadt Rheine ist durch die Textilindustrie reich geworden, dann wurde sie eine der größten Garnisonstädte, jetzt sorgen viele starke mittelständische Betriebe für einen einigermaßenen Wohlstand. Die Arbeitslosigkeit liegt bei rund vier Prozent. Die Menschen hier seien bodenständisch, verbindlich und verlässlich – im Gegensatz zu den Rheinländern, die sich am nächsten Tag nicht mehr an ihr Versprechen erinnern können, wird einem hier unverblümt aufs Brot geschmiert. Und ehrlich sind die Rheinenser. Verdammt ehrlich.
Entlang der Ems Richtung Emsdetten sind die Wege nicht mehr schnurgerade, sondern mäandern sich in kleinen Kurven durch die Niederungen des Flusses. Aus den einzelnen Baumgruppen sind jetzt Wälder geworden. Durchschnitten von Wiesen und Feldern. Plötzlich bollern Schüsse durch den Wald. Der Weg führt entlang eines militärischen Bereichs von der Bundeswehr, wo noch schießen geübt wird. Gegensätzlicher könnte das Land kaum sein. Ein Stückchen weiter hat ein religiöser Pragmatiker eine ausgemusterte gelbe Telekom-Telefonzelle in eine Marienkapelle verwandelt. Das magentafarbenen 11 8 33 ist nun überschrieben mit einem Ave Maria. Wenn es eine heile Welt gäbe, wäre sie wohl hier oben im Münsterland, wo die Haustüren grundsätzlich offen, die Vorgärten so schmuck und gepflegt und die Bewohner an das Gute im Menschen und das Heil aus dem Himmel glauben. Ein bisschen Frieden.