Crocs müssen es sein. Die klobigen Schuhe stapeln sich neben den Spinden in der Schwesternumkleide auf der Station A6. Im Gegensatz zu Birkenstocksandalen sind sie vorne geschlossen und aus Plastik – also abwaschbar. Nicht unerheblich bei der Arbeit mit Körperflüssigkeiten. „Es geht ja doch manchmal etwas daneben“, sagt Schwester Marion und eilt den Flur hinunter, in dem das grelle Neonlicht in den Augen schmerzt, während das Umland hinter den Fensterscheiben noch im Dunkel versinkt. Ihre Frühschicht hat vor wenigen Minuten um sechs Uhr begonnen.
Im Schwesternzimmer fasst die Nachtschicht die nächtlichen Vorfälle auf der sechsten Etage des St.-Katharinen-Hospitals zusammen. Der wichtigste: Herr S., Jahrgang 1916 (Patientennamen und -daten von der Redaktion geändert), ist gestorben. Unerwartet, still, alleine. Ein Arzt stellte noch in der Nacht seinen Tod fest, die Familie verabschiedete sich. Doch sein Leichnam liegt noch in Zimmer 618. Erst müssen einige Stunden vergehen, bis die Todeszeichen eintreten wie Totenflecken und Leichenstarre. Dann kann Herr S. für tot erklärt werden. „Später müssen wir ihn einsargen, im Untergeschoss, Zimmer 13“, sagt Marion Andrä.
Die großen braunen Augen der zierlichen Endvierzigerin vermitteln den Eindruck eines verschreckten Rehs. Wie auch ihre hohe, etwas fiepsige Stimme, die nach Unsicherheit klingt. Völlig in die Irre führend. Schwester Marion ist hart im Nehmen. Sie weiß, was sie will. Seit mehr als 20 Jahren ist sie Krankenschwester. Seit sie als Kind das erste Mal den Äther in der Poliklinik ihrer Heimatstadt Leipzig roch und die Krankenschwestern in ihren gestärkten Kitteln und weißen Häubchen sah, liebt sie diesen Beruf. Und das wird sie auch noch am Ende dieser Frühschicht sagen, acht Stunden, Hunderte Sprühstöße aus Desinfektionsspendern, Tausende Laufschritte später.
An diesem Morgen ist sie zuständig für die Vitalzeichenkontrolle, während die anderen Schwestern mit grünen Hygiene-Einmalschürzen in den Zimmern verschwinden. „Waschstraße nennen wir das. Wir wechseln uns ab, denn Waschen ist anstrengend, weil man viel heben muss.“ Sie schiebt den Visitenwagen mit den Befundtaschen vor sich her – Grau für die Geriatrie, Gelb für die Gastroenterologie (Magen-Darm) – darauf eine Abwurfschale für die Kanülen der Thromboseprophylaxe-Spritzen, Desinfektionsmittel, Zellstoff-Tupfer. Sie muss alles dabeihaben, denn jeder Weg zählt: „Ein Zeitfaktor, und Zeit haben wir leider immer weniger“, sagt sie. Eine Vitalzeichenkontrolle benötigt nur wenige Minuten.
Die Zeit läuft. Zimmer 620. Schwester Marion studiert das Kurvenblatt von Frau B., Jahrgang 1927, eingewiesen vor einem Monat wegen Atemnot.
37 Sekunden: Sie stülpt eine Hygienekappe über das Ohr-Thermometer, schnappt sich Blutdruckgerät, Thromboseprophylaxe-Spritze, Stethoskop und klopft an. Tritt ein, knipst das Licht an. „Guten Morgen, ich messe Ihre Temperatur, Blutdruck und Puls. Wie haben Sie geschlafen? Verdauung gehabt?“ – „Ja, zweimal.“ Sie misst die Temperatur im Ohr der weißhaarigen Dame, die regungslos im Bett sitzt. Dahinter Schläuche, eine Nasenmaske zum Inhalieren. Gegenüber hängt ein Fernseher, umrahmt von zwei Kunstdrucken, Versuche gegen die Krankenhaustristesse.
1.23 Minuten: „36,6 Grad. Wir nehmen mal gleich Ihren rechten Arm zum Blutdruckmessen.“ Sie zieht die Ärmel des rosa Nachthemdes hoch, schnallt die Manschette um den dünnen Oberarm, pumpt, setzt das Stethoskop auf die Armbeuge.
1.58 Minuten: Zischend entweicht die Luft, der Klettverschluss ratscht. „120 zu 70, wie ein junges Mädchen. Jetzt noch den Puls.“ Sie tastet nach der Arterie, schaut auf die Uhr. Die Dame atmet pfeifend.
2.45 Minuten: „60. Na, haben Sie auch ausreichend getrunken, Frau B.?“ – „Ja, mach ich, gleich zum Frühstück.“ – „Zeigen Sie mal Ihren Bauch, wo ich die Spritze hinsetzen kann.“ Schiebt das Nachthemd hoch. Blau-grüne Flecken sind zu sehen, harmlose Unterhautblutungen. „Das sieht ja wie eine Landkarte aus. Zum Glück ist noch keine Bikinizeit. Ich setze die Spritze hier, tut nicht weh.“
3.02 Minuten: „So, Schwester Anna kommt gleich und geht mit Ihnen ins Bad.“ Tippt auf den Desinfektionsspender, reibt ihre Hände. „Bis später, Frau B.“
3.09 Minuten: Sie zeichnet eine gewellte Linie für je einen Stuhlgang, zieht eine rote Linie für den Puls, eine blaue für die Temperatur in der Kurve nach, trägt den Blutdruck ein. Summt vor sich hin.
3.29 Minuten: Schwester Marion schiebt den Visitenwagen zu Zimmer 611. Ende der Kontrolle
Rund eineinhalb Stunden später hat Schwester Marion mit ihrer heiteren und gleichzeitig resoluten Art, mit flinken, aber nie hektischen Handgriffen die Werte von 18 Patienten gemessen – und sucht dabei immer den Blickkontakt mit ihnen. Zwischendurch ruft Schwester Margarete sie um Hilfe, um Herrn E. umzulagern sowie Anti-Dekubitus-Auflage, Laken, Windel und Hemd zu wechseln. Ein süßlich-fauliger Geruch zieht kaum wahrnehmbar durch das Zimmer, hinter dessen Scheiben der Himmel rosa glüht. Bettlägerige Patienten werden alle zwei Stunden bewegt und benötigen vollständige Hilfe beim Waschen, zum Teil auch beim Trinken oder Essen. Das ist zeitintensiv und bedeutet Überstunden. Bei der Pflege kann man nicht einfach gehen, wenn die Schicht endet, sondern erst, wenn alle versorgt sind. Mit 200 Überstunden liegt Stationsschwester Vera an der Spitze. Der Kitt, der die Station A6 unter diesen Strapazen zusammenhält, ist die Solidarität der Schwestern untereinander. Keine würde hier auf Kosten einer anderen weniger zupacken, beteuern sie unisono. Sie arbeiten viel mit Flüssigkeiten aller Art, meist Körpersäften, und es scheint fast, als ob es Schwester Marion leichtfallen würde. Doch nicht alles. Stuhlgang, Durchfall, Erbrechen seien kein Thema. „Aber bei Sputum, ausgehustetem Schleim, schmeißt es mich weg.“ Dann muss sie weiter, Verbände erneuern, Inhaletten auffüllen und reichen, Patienten in den Operationssaal bringen, Dokumentation, Entlassungen und Patientenbriefe schreiben, Neuaufnahmen vorbereiten, Laborbefunde einordnen, Infusionen anschließen, Patienten wiegen, Blutzuckerwerte messen. Zwischen 9 und 10.30 Uhr ist Visite, ein Zusammenspiel von Ärzten und Pflege. Schrilles Piepen Und immer wieder tönt das schrille Piepen über den Flur, wenn ein Patient nach einer Schwester ruft. „Das ist Knochenarbeit, körperlich und psychisch“, sagt Schwester Marion. Als Ausgleich radelt die zweifache Mutter im Sommer einfach drauflos. Bewegung, ohne Eile, ohne Ziel. Hier im Krankenhaus gibt es immer eine nächste Etappe, die nächste Aufgabe. Um 12 Uhr kommt der Essenswagen, um 13 Uhr der Spätdienst. Die wichtigste Nachricht in der Übergabe: Herr F. ist eingesargt worden. Während der Morgenvisite hat Dr. Jörg Zeeh, Chefarzt der Gastroenterologie, Herrn S. für tot erklärt. Anschließend rollen Schwester Marion und die 22-jährige Auszubildende Jennifer Wagner das Bett mit dem Leichnam über den leeren Flur zum Aufzug. Nur schwach zeichnen sich die Konturen des schmächtigen Körpers unter dem Laken ab. „Das soll niemand sehen. Die meisten sterben hier, aber die Menschen sollen ja gesund werden.“
„Nicht in weißen Wänden sterben“
Zimmer 13 im Untergeschoss ist ein gefliester Raum. An diesem Tag liegen fünf Leichen in den Edelstahlboxen der Kühlung. Keine Spur vom eigenartig süßlichen Leichengeruch, nur der scharfe Duft von Desinfektionsmitteln. Die beiden ziehen sich grüne Vlieskittel und Einmal-Handschuhe an. „Aus hygienischem Selbstschutz, denn Krankenhäuser sind Keimquellen. Und als Barriere gegen die Flüssigkeiten, die die Toten verlieren“, sagt Schwester Marion, und es klingt fast entschuldigend. Sie packen das Laken, heben den Körper auf eine Etagenwanne und rollen ihn in die Kühlung.
Auch nach all den Jahren hat sie sich noch nicht an Todesfälle gewöhnt: „In Krankenhäusern wird viel gestorben, denn in unserer Gesellschaft hat der Tod keinen Platz. Aber die Menschen sollten nicht in weißen Wänden sterben, sondern bei ihrer Familie.“ Dann fährt Schwester Marion wieder in die sechste Etage, um das Zimmer 618 für den nächsten Patienten vorzubereiten. Energisch reißt sie das Fenster auf. „Jetzt erst mal gut lüften.“ Sie zieht die kalte Morgenluft ein und bleibt für einen kurzen Moment regungslos am Fenster stehen. Ein stilles Verharren, ein einziges Mal an diesem Vormittag.