Wie definieren Sie „Gentrifizierung“?
Ludwig Will: Gentrifizierung ist in ihrer ersten Phase oft ein Instrument der stadtstrukturellen Aufwertung von Problemquartieren. Nämlich indem Menschen zuziehen, weil sie einen bisher gemiedenen Kiez bevorzugen. Das geschieht meist in üblicher ‚Fruchtfolge’ von Studenten und bürgerlichen Randgruppen. Deren Lebensstil, Art zu leben und sich zu äußern, entwickelt dort nach und nach eine eigene Qualität. Diese Veränderung übt auf Andere eine Art Lockeffekt aus. Neue Bewohner ziehen, diesen Effekt oftmals verstärkend, immer mehr nach. Dieser Prozess ist zunächst ein ‚Gesundungsprozess’, wünschenswert und positiv.
Andrej Holm: Diese phänomenologische Beschreibung findet man auch in vielen stadtsoziologischen Studien. Aus dieser Perspektive wird aber viel stärker auf die bisherigen Bewohnerschaften geschaut und eine Aufwertung stellt sich nur all zu oft als ein Verdrängungsprozess dar. Wenn man aber nach zehn, fünfzehn Jahren die Sozialstruktur untersucht und fragt, wer wohnt jetzt noch hier – beispielsweise in einem Sanierungsgebiet wie Prenzlauer Berg oder Friedrichshain – dann fällt auf, dass ein Großteil, vor allem der ärmere Teil der Bevölkerung, weggezogen ist. Aus dieser Perspektive umfasst eine sehr abstrakte Definition von Gentrifizierung alle ökonomischen Inwertsetzungsstrategien und auch politisch initiierten Aufwertungsstrategien, die für ihren Erfolg den Austausch der Bevölkerung voraussetzen. Wenn Bauherren oder Investoren beispielsweise eine Abrissgenehmigung für ein noch bewohntes oder halbwegs bewohntes Wohnhaus haben wollen, um dort eine renditeträchtigere Neubauanlage zu errichten, wird diese Strategie nur aufgehen, wenn es gelingt die bisherigen Bewohner auszutauschen. Das heißt, ich schaue mit den soziologischen Perspektiven eher auf die Schattenseiten dieser Aufwertung und die sozialen Kosten. Die Frage ist, wie man das so auflöst, dass alle etwas davon haben.
Wie sieht denn aktuell die Situation im Wedding aus?
Will: Der Wedding besteht aus ganz verschiedenen Kiezen. In einigen hatten wir erhebliche Wohnungsleerstände. So beispielsweise vor Jahren an der Brunnenstraße, bei der DEGEWO. Diese städtische Wohnungsgesellschaft hat erfolgreich Leerstände abgebaut. Finanzstärkere, selbstzahlende Mieter wurden gewonnen. Wichtig ist, dass Gentrifizierung moderat und zielgerecht erfolgt. Überdosiert wäre sie Gift, aber ohne jede Gentrifizierung würden Entwicklungschancen vertan.
Folgenden realtypischen Ablauf kann man sich vorstellen: Wir haben in einer ersten Phase die geschilderten positiven Effekte des Leerstand-Abbaus. In einer zweiten Phase kommen dann Verknappungseffekte – die sind per se auch noch nicht negativ, können es aber werden. Ziel sollte eine ‚Mischung’ von Bewohnern sein, die gut miteinander leben können und wollen.
Holm: Diese ‚soziale Mischung’ ist ein Planungsideal geworden, das leider gar keine empirische Basis hat: Zwar wissen wir Stadtsoziologen einerseits, dass sich durch eine hohe Konzentration von benachteiligten Gruppen Ausgrenzungseffekte für diese Gruppen verstärken können. Wir wissen aber leider nicht, ob eine bildungsbürgerliche und wohlhabende Nachbarschaft tatsächlich zum Vorteil der Ausgegrenzten wird. Statt um ‚Mischung’ sollte es um Umverteilung gehen. Grundsätzlich müssten wir eher dahingehend überlegen, wie man die, die wir als ausgegrenzt und benachteiligt definieren, tatsächlich qualifizieren kann. Es gibt ja in der Integrationsdebatte Argumente, die sagen, dass gerade ethnische Communities – auch wenn sie häufig als Parallelgesellschaften verschrien sind – eine wichtige Integrationsfunktion haben. Denn das sind erste Andockstationen, an denen neu Hinzukommende in einer Stadt mit den Institutionen vertraut gemacht werden. So haben sie überhaupt eine Chance auf den familienbasierten Arbeitsmärkten einen Job zu finden, den sie als Einzelne möglicherweise nicht bekommen würden. Hinzu kommt das Problem der steigenden Mieten im Gefolge der Aufwertung. Ich glaube, wir sollten im Auge behalten, dass Quartiere wie der Wedding gerade aufgrund der Situation von noch günstigen Mieten für ökonomisch nicht so gut gestellte Menschen in der Gesellschaft eine hohe Qualität haben.
Will: Aber: mit ethnosozialer Isolierung als Emanzipationsansatz konservieren Sie Defizite. Das funktioniert vermutlich nicht. Wir sehen das zum Beispiel in den Weddinger Schulen. Solche Fehlentwicklungen gilt es gerade mit verschiedenen Mitteln aufzubrechen. Ich sähe beispielsweise die Möglichkeit, durch Busing Schüler aus dem Wedding nach Frohnau oder nach Prenzlauer Berg zu bringen. Denn die Sozialisation der Kinder mit solchen aus anderen Schichten und Stadtquartieren wäre sehr emanzipationsfördernd. Der Königsweg der Integration über Schule, Kita und Sportverein ist dringend zu suchen. Ein Beispiel ist die Bürgerplattform „WIR SIND DA“ in Wedding/Moabit. Das ist eine staatsunabhängig finanzierte Initiative von Firmen und Bürgern. Ähnliches leisten auch das Quartiersmanagement und andere Initiativen, meist staatlich finanziert. Die Aktivierung bürgerforcierter, idealerweise ehrenamtlicher Problemlösung ist unverzichtbar. Denn ohne Bürgerengagement liefe sozialstaatliches Handeln ins Leere.
Was gibt es denn für Möglichkeiten von Seiten der Politik solche Prozesse mit zu steuern? Welche Chance bietet denn eine Sanierungsmaßnahme?
Will: Eine städtebauliche Sanierungsmaßnahme kann nur den Rahmen bieten: Die Menschen, die dort leben, müssen selbst aktiv werden. Dabei dürfen wir nicht den Prozess des Investierens in Häuser vernachlässigen. Behutsame Instandsetzung und Modernisierung der Häuser ist aus sozialen, ökologischen und auch aus ökonomischen Gründen wichtig. Die Häuser im geplanten Sanierungsgebiet entlang der stark befahrenen Müllerstraße sollten qualitativ weiterentwickelt werden. Zum Beispiel, indem Schallschutzfenster und Zwangsbelüftungen mit Wärmerückgewinnung eingebaut werden. Ertüchtigung und kreatives Revival der Erdgeschosszonen der Häuser für Dienstleister und Kleingewerbetreibende wären ein weiteres Ziel: Dem Tante Emma-Laden folgt der Softwareentwickler aus Litauen oder der türkischstämmige Steuerberater oder Buchhalter. Der Staat – und noch mehr die Mieter – brauchen den aufgeklärten Hauseigentümer als Partner: Ein möglichst nicht diskriminierter Partner, der sich respektiert fühlt und bereit ist, seine Möglichkeiten einzubringen.
Welche Steuerungsmöglichkeiten sehen Sie, Herr Holm?
Holm: Ich finde das sehr interessant, weil Sie mir eigentlich das Wort aus dem Mund genommen haben. Sie haben angefangen zu sagen, hier müssen neue Leute rein und wir müssen eine Mischung herstellen. Dann haben sie aber bei den konkreten Konzepten sehr deutlich beschrieben, wie die jetzigen Bewohner, Gewerbetreibenden, die jetzigen Institutionen selbst zu den Akteuren der Umgestaltung werden. Da sind wir wirklich relativ nah beieinander. Ich glaube auch, dass Bewohner eines Gebietes viel bessere Experten sind für ihre Bedürfnisse, als jedes Stadtplanungsamt und jeder Eigentümer, der von außen investiert. Deswegen sind Verfahren der nachbarschaftlichen Wunschproduktion, wie beim Community Organising, eine unglaublich wichtige Grundlage für jeden Planungsprozess. Eine zweite Anmerkung habe ich zu der Strategie der behutsamen Stadterneuerung, die ja in den 80er Jahren in Kreuzberg modellhaft durchexerziert wurde. Aus einer sozialen Perspektive, mit Blick auf die Beteiligung und auch in baulicher Hinsicht war das ja ein durchaus erfolgreiches Unterfangen. Allerdings ein Erfolg auf der Basis von unglaublich vielen öffentlichen Fördermitteln. Die Baumaßnahmen konnten behutsam sein, weil es Förderprogramme gab, die die Mieten deutlich gekappt und reduziert haben. Der Staat hat sehr viel Verantwortung mit in diesen Prozess gegeben, in Form von Geld und des besonderen Planungsrechts in den Sanierungsgebieten und das unterscheidet sich deutlich von der jetzigen Ausgangssituation.
Will: Tatsache ist: Wir haben das Geld nicht mehr, der Staat kann sich die Subventionen wie früher nicht mehr leisten. Bleiben die Hauseigentümer: sie müssen eine realistische Chance haben, eine anfangs minimale, aber auskömmliche Rendite zu erwirtschaften. Dabei sollte der Staat nur ergänzend helfen. Zur Entwicklung von Problemquartieren: Ein Großteil der Probleme ist hausgemacht. Sie entstanden nicht zuletzt, weil es früher zu rigide Mietpreisbindungen gab: Die Mieten durften nicht ausreichend steigen, also unterblieben notwendige Instandsetzungen und Modernisierungen. Damals gab es Gastarbeiter, die vor allem billig wohnen wollten. Sie zogen bevorzugt in solche Häuser. Wohnungsbaugesellschaften verdichteten diese Ansiedlungen noch durch sog. Umsetzmieter aus Abbruchhäusern. Die damit einhergehende Segregation wurde zunächst nicht als Problem empfunden. Denn die Gastarbeiterfamilien wollten und sollten doch später wieder nach Hause, was sie dann doch nicht getan haben. Sie wurden Mitbürger auf Dauer.
Wie könnte man denn klug handeln, Herr Holm? Was gibt es für positive Beispiele?
Holm: Ich finde das sehr interessant, unsere Argumentationen liegen nicht weit auseinander. Sie haben angefangen zu sagen, dass in den Wedding neue Menschen kommen müssen, um eine ‚Mischung’ herzustellen. Aber bei den konkreten Konzepten haben Sie sehr deutlich beschrieben, wie die jetzigen Bewohner, Gewerbetreibenden und Institutionen zu Akteuren der Gentrifizierung werden. Da sind wir wirklich relativ nah beieinander. Ich glaube auch, dass die Bewohner eines Gebietes viel bessere Experten für ihre Bedürfnisse sind – besser als jedes Stadtplanungsamt und auch als jeder Eigentümer, der von außen investiert. Deswegen sind diese Qualifizierungsmaßnahmen oder die Maßnahmen, die qualifizierte Bedürfnisse produzieren, in solchen komplizierten Aushandlungsprozessen wie beim Community Organizing , eine unglaublich wichtige Grundlage für jeden Planungsprozess – wie beispielsweise bei einer Sanierungsmaßnahme. Eine zweite Anmerkung habe ich zu der Strategie der behutsamen Stadterneuerung , die ja in den Achtziger Jahren in Berlin-Kreuzberg modellhaft durchexerziert wurde. Diese kann aus soziologischer, baulicher und Beteiligungsperspektive als erfolgreich gelten. Sie ist allerdings nur auf der Basis von unglaublich vielen öffentlichen Fördermitteln so erfolgreich gewesen. Das heißt, die Baumaßnahmen konnten behutsam sein, weil es Förderprogramme gab, die die Mieten zumindest für den Förderzeitraum deutlich gekappt und reduziert haben. Das war eine staatliche Initiative, die sehr viel Verantwortung mit in diesen Prozess gegeben hat, in Form von Geld und dem besonderen Planungsrecht, das es in dem Sanierungsgebiet gegeben hat. Das unterscheidet sich deutlich von der jetzigen Ausgangssituation.
Will: Tatsache ist: Wir haben das Geld nicht mehr, der Staat kann sich die Subventionen wie früher nicht mehr leisten. Bleiben die Hauseigentümer: Sie müssen für ihre Immobilien eine realistische Chance haben, eine anfangs minimale, aber auskömmliche Rendite zu erwirtschaften. Dabei sollte der Staat nur ergänzend helfen. Attraktive Kindertagesstätten und Schulen sind neben dem Arbeitsplatz und damit dem Einkommen weitere Voraussetzungen zur Verbesserung der Standortfaktoren. Mein Vorschlag wäre im südlichen Bereich der Müllerstraße einen neuen Schulstandort zu schaffen. Denn neue Curricula, Ganztagsschulbetrieb und offene Pädagogikkonzepte sind in den beiden dort vorhandenen Schulen der Kaiserzeit nicht mehr akzeptabel zu praktizieren . Als AAA-Schulcampusstandort neu empfehle ich das Gelände Triftstraße/Tegeler Straße/Luxemburgstraße.
Wie könnte man denn klug handeln, Herr Holm? Was gibt es für positive Beispiele?
Holm: Ich würde das so ähnlich sehen, aktuelle Probleme sind ja immer auch das Ergebnis von einer verfehlten Politik in der Vergangenheit. Ich bin aber nicht einverstanden damit, dass wir die Strukturen wieder auflösen müssen. Sondern wir müssen Wege finden, wie wir mit der entstandenen Situation umgehen können: Wie kann ökonomisch schwachen Familien mit niedrigem Bildungsstand, geholfen werden, die sich in diesen problematischen Quartieren konzentrieren? Wie können diese Familien qualifiziert werden? Sie haben das Busing-Konzept angesprochen. Wie wäre es stattdessen mit einer Aufwertung der Schulen selbst? In Neukölln wurde die Problemschule in der Rütlistraße in den Rütli-Campus verwandelt. Mit öffentlichen Geldern, neuem Lehrpersonal und neuen Konzepten wurde sie als eine der besten Schulen im Bezirk entwickelt. Bessere Schulen eröffnen nicht nur bildungsbürgerlichen Familien mit Kindern im schulpflichtigen Alter eine Bleibeperspektive im Gebiet, sondern entkoppeln die Bildungschancen der Unterschicht vom Umzugsverhalten der Bessergestellten.
Wie könnte denn der Wedding in 10 bis 20 Jahren aussehen?
Holm: Aus meiner Perspektive wäre der Erfolg einer Sanierungsmaßnahme zwiespältig, wenn eine bauliche Erneuerung und eine Neustrukturierung der Gewerbeinfrastrukturen zulasten einer massiven Mietsteigerung und eines Verdrängungsprozesses gingen. Positiv wäre, wenn es tatsächlich einen Erneuerungsprozess gibt, an dem Bewohner, Gewerbetreibende, Einzelhauseigentümer gleichberechtigt beteiligt sind. Und wenn es gelingt eine Gebrauchswertsteigerung im Gebiet zu erreichen, ohne dass die Tauschwerte so stark ansteigen, dass diejenigen, die am meisten auf Gebrauchswerte angewiesen sind, nämlich die Ärmsten, verdrängt werden.
Ich werde nicht mit dem Zollstock nachmessen, ob dann tatsächlich 30 Prozent der Haushalte ausgezogen sind. Es geht eher darum, bestimmte soziale Milieus und Strukturen prinzipiell zu erhalten. Und da ist es wichtig, dass es neben dem Gewerbeangebot, der Qualität von öffentlichen Plätzen, und tatsächlich verbesserten Bildungsangeboten auch weiterhin preiswerte Mieten gibt. Es wäre eine traurige Vorstellung, wenn wir in zehn Jahren immer noch davon sprechen müssten, ob es nicht gut wäre ein Busing zu organisieren. Stattdessen sollten vor allem für ärmere Haushalte die Bildungs- und Teilhabechancen hier vor Ort erhöht werden. Das wäre für mich wirklich ein viel besserer Schlüssel als die hier diskutierte Verstreutaktik, bei der wir es aus stadtplanerischer Sicht gar nicht mehr in der Hand haben, wo die Menschen hinziehen. Dann wird der Wedding vielleicht eine ‚gesunde Durchmischung’ durch einen ‚Gesundungsprozess’, aber dann stürzen vielleicht andere Gebiete ab und das Problem der Segregation verlagert sich nur. Das würde ich gerne vermeiden und eher versuchen, ein Gebiet so zu verändern, dass eine Teilnahme an der Stadtgesellschaft für unterschiedliche soziale Gruppen und Milieus möglich ist.
Will: Wenn alles gut läuft, werden in den nächsten Jahren Menschen verstärkt zuziehen und eine verträgliche ‚Korrektur’ bewirken. Vor allem mittels eigener Kaufkraft, ihres Lebensstils und der Bereitschaft zu guter Nachbarschaft. Auch werden alteingesessene Bewohner nicht durch Kündigungen vertrieben werden. Sie werden häufiger als heute durch eigene Arbeit mehr Geld verdienen. Wohngeld wird weiterhin streng subsidiär gezahlt. Die Erfolge in den Schulen werden allgemeine Anerkennung finden. Ganz wichtig ist: die Häuser werden behutsam erneuert. Insbesondere die Wohnungen werden funktional und energetisch sowie schalltechnisch ertüchtigt sein. Und für die bessere Urbanität werden die Erdgeschosse der Häuser phantasievoll umgebaut genutzt werden. Dort werden sich Dienstleister, Händler und Kleingewerbetreibende eingemietet haben. Die soziale und urbane Struktur wird insgesamt besser sein als heute.