Der Morgen nach der Eskalation: Der Boden ist matschig vom Dauerregen der Nacht, die Polizei bewacht in Regencapes die Arbeiten, an einem Stand versorgen sich die Demonstranten mit Brötchen und Kaffee. Einige von ihnen harrten die ganze Nacht im Stuttgarter Schlossgarten aus. Nachdem Hundertschaften der Polizei am Donnerstag unter massivem Einsatz von Pfefferspray und Wasserwerfern immer größere Teile des Parks absperrten, begannen nachts die Fällungen der ersten 25 alten Bäume, die dem umstrittenen Milliardenprojekt “Stuttgart 21“ zum Opfer fallen.
Heidi Werner läuft über dem schlammigen Boden von einem Demonstranten zum anderen. Die junge Frau trägt eine pinke Weste. „Wir halten euch OBEN“, steht auf dem Rücken. Werner gehört zu dem vor einer Woche gegründeten „Kopf hoch“-Team, einer Gruppe von mehr als 30 Leuten mit pädagogischem und psychologischem Hintergrund. Sie wollen für die Demonstranten da sein, die einfach fertig sind mit den Nerven. Werner legt an diesem Morgen vielen Leuten ihren Arm auf die Schulter, fragt, ob alles in Ordnung sei. Eine Frau bricht dabei in Tränen aus.
„Gestern waren die meisten auch einfach nur fassungslos“, sagt Werner. „Sie meinten: ‚Wir waren doch so friedlich.'“ Viele seien vor allem von der Brutalität der Polizei gegenüber Kindern und älteren Menschen schockiert und verärgert gewesen. „Es ist bewundernswert, wie friedlich die Demonstranten geblieben sind und sich trotzdem da vorne hingestellt haben“, erzählt Werner weiter ihre Eindrücke. „Großer Respekt vor diesen Leuten.“
Am Donnerstagvormittag hatte es zunächst eine Schülerdemonstration gegeben, die sich später mit anderen S21-Gegnern im Schlossgarten vermischten. Dort habe es eine Blockade gegeben, berichtet Stuttgarts Polizeipräsident Siegfried Stumpf am Freitag auf einer Pressekonferenz. Polizisten seien beleidigt und körperlich angegangen worden. Zudem sei ein Gitterfahrzeug und ein Wasserwerfer von den Demonstranten besetzt worden. „Es gehört schon eine Dreistigkeit dazu, als Jugendlicher Einsatzfahrzeuge und Wasserwerfer zu besteigen“, sagte Stumpf. Im Gegenzug hält er es für verhältnismäßig, dass die Polizei daraufhin Wasserwerfer und Pfefferspray einsetzte. Mit ihrem massiven Eingreifen sorgte die Polizei im Laufe des Nachmittags immerhin für mehrere Hundert Verletzte, darunter viele mit Augenverletzungen. Aus Sicht der Polizei dienten die Wasserwerfer lediglich zur „Eigensicherung“.
Rückblick: In der Nacht zu Freitag glich der Stuttgarter Schlosspark einem überfüllten Festivalgelände – ohne Musik und mit viel Polizei. Mobile Flutlichtanlagen beleuchteten die Polizeiabsperrungen, an denen sich tausende Gegner des Bahnhofneubaus versammelt hatten, um das Fällen der Bäume zu verhindern. Das Abholzen der Jahrzehnte alten Kastanien war für Mitternacht angekündigt worden. Doch die Baumfäller ließen sich Zeit bis die letzten S-Bahnen um halb 1 nachts abgefahren waren. Vielleicht hofften sie, damit werde sich ein Teil der Demonstrierenden zerstreuen, die auf die öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen waren.
Als sich um 1 Uhr zwei martialische gelbe Bagger in Bewegung setzten und an den ersten Bäumen rüttelten, schrien viele der Demonstranten entsetzt auf, „Mörder“-Rufe mischten sich mit dem Chor der Trillerpfeifen und Kreischen der Sägen. Es flogen einzelne Kastanien und Flaschen, vorwiegend aus Plastik. Die Stimmung war aufgeladen, doch insgesamt blieb es friedlich. Vor allem machte sich ohnmächtige Wut unter den Demonstranten breit. „Das ist furchtbar. Das sind Ganoven“, sagt die 73-jährige Annelies, die sich mit ihrem orangenen Regenschirm bis vorn ans Absperrgitter durchdrängelt und daran rüttelt. Sie war von halb sieben am Donnerstag früh auf den Beinen – bis der erste Baum zu Boden fiel: „ich bleibe bis morgen früh hier. Bis die wieder abgezogen sind.“
Um 1.40 Uhr wurden die ersten Bäume in einen riesigen Zerhäxler geschmissen. „Alles was grün ist in den Zerhäxler!“, rief ein Mittvierziger mit langen grauen Haaren und Turnschuhen und die lachenden Umstehen stimmten in den Sprechchor mit ein. Der wechselte zu Buhrufen, als ein Trupp Bauarbeiter mit Helmen hinter der Polizeikette lang lief. Doch gewalttätige Eskalationen blieben aus. Bis zum frühen Freitagmorgen sind die ersten 25 Bäume gefällt und zerhäxelt worden.
Viele der Menschen sind erst durch die polizeiliche Gewalt auf der SchülerInnen-Demo politisiert worden. So wie Kevin Klein, 22, der letztes Jahr sein Abitur gemacht hat. Er hat ein blutunterlaufenes Auge und eine geschwollene Hand von einem Polizei-Schlagstock: „Das war echt heftig. Dabei habe ich nur eine Plane gegen die Wasserwerfer festgehalten.“
Immer wenn mal ein Einzelner besonders aggressiv gegen die Polizeikette anpöbelte oder eine einzelne Flasche oder Kastanie geschmissen wurde, wandten sich Umstehende dagegen und versuchten zu deeskalieren. „Die Idee von friedlichem Protest ist so gut, dass die keiner kaputt machen möchte. Das ist hier Schwaben, keine Berliner Krawall-Kultur“, sagt Hagen Schulz, 33. Die Vorwürfe der Polizei, es seien Pflastersteine geflogen, sogar Mobiliar aus dem Biergarten im Park oder Reizgas gegen Polizisten gesprüht, weisen die Parkschützer entschieden zurück, wie einer ihrer Pressesprecher Fritz Mielert erklärt: „Es sind nie Pflastersteine geflogen weder auf der Demo, noch im Park.“ Von Reizgas haben weder die Parkschützer, noch das Demo-Sanitäterteam oder die anwesende taz-Journalistin etwas mit bekommen. Einmal in der Nacht hat die Polizei einen Wasserwerferstrahl auf den Biergarten gezielt. „Da sind Tische aufgestellt worden, um sich vor den Wasserwerfern zu schützen. Das sind ganz gezielte Manöver der Polizei, um den Protest zu kriminalisieren“, so Mielert.
Auch nachdem es gestern in der Tagesschau die Falschmeldung über Steinwürfe gab, die anschließend dementiert werden musste, sind sich die „Parkschützer“ sicher, dass hinter solchen aufgebauschten Meldungen auch politisches Kalkül steckt: „Das kann man sicherlich auch als Taktik der Polizei auslegen mit der Absicht, Polizisten aufzuheizen und bundesweit Stimmung zu machen“, fasst es Mielert zusammen. Auch die „Jugendoffensive Stuttgart“ zieht ein ähnliches Resümée von dem Polizeieinsatz in der Abholzungsnacht: „Er hat gezeigt, dass nur durch extrem brutales Auftreten der Polizei eine Durchsetzung gegen den Willen der Bevölkerung möglich ist. Die Provokationen gingen von der Polizei aus, um Bilder mit Randalierenden für die Zeitungen zu haben“, sagt ihr Pressesprecher Florian Toniutti, 25. Er rechnet damit, dass die Polizeigewalt noch mehr Menschen mobilisiert zur großen Demonstration und einige Zehntausend kommen.
Die Polizei verstrickte sich am Freitag bei dem Versuch der Aufklärung in einigen Widersprüchlichkeiten. So erläuterte Polizeipräsident Stumpf beispielsweise, dass der Einsatz zwar seit langem geplant gewesen sei, die Polizei aber daran interessiert gewesen sei, den konkreten Zeitpunkt möglichst kurzfristig anzusetzen. Sie habe, den „Überraschungseffekt“ ausnutzen wollen. Dies spricht dafür, dass die Polizei mit großem Protest gerechnet hat, wenn es zu den Baumfällungen im Schlossgarten kommt. Gleichzeitig jedoch war beispielsweise der Rettungsdienst von der Polizei im Vorfeld nicht informiert worden. Dies begründet Stumpf wiederum damit, dass es sich zwar personell um einen Großeinsatz gehandelt habe. Den Rettungsdienst aber brauche man nur „bei kritischen Einsätzen“. Den habe die Polizei also nach diesen Worten nicht erwartet.
Zudem verwies die Polizei darauf, dass schließlich ein Anti-Konflikt-Team vor Ort gewesen, aber später wieder resigniert abgezogen sei. Dass sie für keine Beruhigung sorgen konnten, kann nicht überraschen angesichts der Tatsache, dass sie mit gerade mal acht Leuten vor Ort waren im Vergleich zu den anderen Hundertschaften der Polizei und im Vergleich zu den Tausenden von Demonstranten, mit denen auch die Polizei rechnen musste. Zudem berichten Augenzeugen, dass das Anti-Konflikt-Team häufig nur zugehört und sich eher am Rande aufgehalten habe.
Die Verantwortung dafür, wie sich nun die Lage entwickelt, schob Landesinnenminister Heribert Rech (CDU) allein den Gegnern zu. Er sehe die nächste Großdemo am Freitagabend als Möglichkeit, „wieder in einen vernünftigen Dialog zu kommen“, wie er am Freitagmittag noch sagte. Man müsse sehen, „wie die Chance heute Abend genutzt wird“.