Wenn sie lacht, lacht sie schallend. Wenn sie sich ärgert, sagt sie auch mal „Scheiße“. Aber meistens strahlt sie über das ganze Gesicht. Es ist ein altes Gesicht, umrahmt von schlohweißen Haaren. Barbara Gladysch ist 70 Jahre alt – aber ihre kindliche Anarchie hat sie sich bewahrt. Vielleicht auch, weil sie ihr ganzes Leben immer unter Kindern verbracht hat. 36 Jahre arbeitete sie als Sonderschulpädagogin, war aktiv in der Friedensbewegung, hat zwei Enkel und zwei Söhne und wohnt im Geranienweg in Düsseldorf – einer beschaulichen Straße, mit Gartenteich hinterm Haus, auf dem Seerosen schwimmen und jede Menge Entengrütze.
Aus dieser heilen Welt bricht Barbara Gladysch oft in Ecken der Welt auf, in denen nichts heile ist. Meist nach Tschetschenien, ihre Seelenheimat, falls es so etwas gibt. 1997, nach dem ersten Tschetschenienkrieg, kam sie als OSZE-Wahlbeobachterin nach Grosny. Auf dem Rückweg von einem Wahllokal traf sie auf eine Gruppe verstörter Kinder, die über die Trümmerhaufen der zerstörten Stadt mit Steinen nach ihr warfen – und dann das Weite suchten. Sie waren, wie viele in diesem kriegsgezeichneten Land, traumatisiert – verängstigt und verhaltensgestört.
Damit kennt Barbara Gladysch sich aus. Die nicht normalen, lernbehinderten oder verhaltensgestörten – sie nennt sie die „kaputtgemachten“ – Kinder waren schon immer ihre Lieblinge. Sie organisierte Spendengelder und baute noch 1997 das erste Rehabilitationszentrum für traumatisierte Kinder in Grosny auf. „Kleiner Stern“ nannte sie es, viele weitere „Sterne“ folgten. Auch der erste privat angelegte Spielplatz in Grosny. Die Psychologin und Sonderpädagogin unterstützt die Betreuer dort, damit sie lernen, den Kindern zu helfen, ihre Kriegserlebnisse zu verarbeiten. Gemeinsam wollen sie die Kinder dazu bringen, wieder zu spielen und zu lachen. Und weniger Angst zu haben.
Wie diesem Mädchen, das schweigend in einer Ecke saß, mechanisch Knetfiguren formte und einen dreckigen Stofflappen umklammerte. Den durfte ihr niemand wegnehmen. Es war die Jacke ihrer kleinen Schwester, getränkt mit festgetrocknetem Blut. Das Mädchen sollte auf ihre kleine Schwester aufpassen, als ihre Mutter quer durch die verminte Stadt ging, um Wasser zu besorgen. Kaum war sie weg, quengelte die Schwester, wollte in den Hof zum Spielen. Irgendwann gab das Mädchen nach, ließ sie gehen. Schaute aber immer wieder raus nach ihr, durch die Plastikplanen vor den Fenstern. Bis sie das Geknatter von Schüssen hörte. Da lag ihre Schwester schon in einer Blutlache tot im Hof. Wahrscheinlich hat sie ein Querschläger von russischen Soldaten getroffen, die mal wieder wild auf Katzen oder Hunde schossen.
Im „Kleinen Stern“ fand das Mädchen Hilfe. Nach einiger Zeit dort schaffte sie es, die Jacke nur noch nachts festzuhalten. Irgendwann brachte sie sie zum Grab ihrer kleinen Schwester und ließ sie ihr dort.
An die hundert Therapeuten haben in den „Kleiner Stern“-Zentren bisher gearbeitet, um Kindern mit ihren Kriegtraumata zu helfen – auch nach dem zweiten Tschetschenienkrieg. Inzwischen werden einige Betreuer auch an Schulen weitervermittelt und staatlich bezahlt.
Wenn man sie fragt, was sie zu all dem antreibt, erzählt Barbara Gladysch von ihrer eigenen Kindheit. Traurig sei die gewesen, sagt sie. Damals, als die Halbwaise mit einem „allmächtigen Vater“, wie sie es nennt, und anderen verständnislosen Erwachsenen aufwuchs, leistete sie einen Schwur: „Ich wollte nie so werden wie die Erwachsenen, die überhaupt nichts von mir und meinen Gefühlen mitbekamen. Ich habe mir geschworen: Wenn ich erwachsen bin, passe ich auf die Kinder auf, egal auf welche.“ Vielleicht trauen ihr Kinder deswegen so sehr, weil sie ihnen immer auf Augenhöhe begegnet, mit Respekt und nicht als Gehorsam fordernde Erwachsene. Was Peter Pan, das Kind, das nie erwachsen werden wollte, für seine verlorenen Jungen war, ist Barbara Gladysch für die kriegstraumatisierten Kinder aus Tschetschenien. Eine von ihnen.