Zschache saust um die Ecke. Er muss sich schnell umziehen. Dann ins Wasser springen und danach noch kurz zur Elektrotherapie. Zschache hat es eilig. Schon flitzt er den Gang der Physikalischen Therapieabteilung im Unfallkrankenhaus Berlin herunter, verschwindet in der Umkleidekabine und rollt wenige Minuten später an den Rand des Schwimmbeckens. Er stemmt sich aus dem Sitz des Rollstuhls und steigt die Treppe hinab ins Wasser. Dabei stützt er sich mit den Armen ab. Seine Beine arbeiten nicht.
„Es gibt zwei Typen von Querschnittgelähmten“, sagt der angehende Sporttherapeut Dennis Springer, der Zschache betreut. „Der eine überspielt seine Lähmung, zieht sie ins Lächerliche und lässt sich nicht gern helfen. Der andere lässt sich eher gehen und beansprucht mehr Hilfe, als er eigentlich benötigt.“
Einmal an diesem Vormittag ist Springer nicht schnell genug. Er ist mit einem anderen Patienten beschäftigt, als Zschache, der seine Bahnen gezogen hat, winkt, weil er einen Rollstuhl am Ausstieg braucht. Als Springer einen Augenblick später aufblickt, sitzt Zschache schon in einem der Stühle, die ein gutes Stück neben dem Ausstieg stehen. Ein anderer Patient erzählt ihm anschließend, dass Zschache einfach rübergerobbt sei und sich behände selbst in den Stuhl bugsiert habe. Springer will Zschache ermahnen. Doch der ist in die Umkleidekabine entschwunden.
Saisonstart am Sonntag
Sein Zeitplan ist straff in diesen Tagen. Am Ostersonntag beginnt auf der Galopprennbahn in Hoppegarten die Saison, Christian Zschache hat zu tun. Er ist Trainer von vier Rennpferden, die ihm auch gehören. In dieser Saison setzt er vor allem auf seinen Dreijährigen Islington und auf den Zweijährigen Gereon. Beide starten am Sonntag noch nicht. Aber Zschache muss sie jetzt, nach dem bisherigen Kraft- und Ausdauertraining, auf Schnelligkeit trainieren. Außerdem arbeitet er an Renntagen als Abwieger der Jockeys, auch am Sonntag ist er am Waagehaus.
Vor elf Jahren verlor Zschache die Gewalt über seine Beine. An einem Tag im Juli 1999, eine Woche nach dem Derby in Hoppegarten, ist er wie jeden Morgen um fünf Uhr aufgestanden, um in den Stall zu gehen. Er trainiert ein schwieriges Pferd, das nur er reiten kann. Auf dem Weg zurück von der Trainierbahn freut er sich, dass das sonst so nervöse Pferd ruhig im Schritt geht. Aber dann rutscht es in einer Pfütze aus. Nur ganz leicht. Doch es erschrickt, steigt und dreht sich um die eigene Achse. Zschache gleitet aus dem Sattel. Ein Huf trifft ihn in den Magen. Er ist schon oft vom Pferd gefallen. Hatte auch immer mal Lähmungen, die nach einer Zeit vorübergingen. Doch als er dieses Mal auf dem Pflaster unweit der Ställe liegt, weiß er, dass es endgültig ist. Er ist bei vollem Bewusstsein, kann aber seine Beine nicht mehr rühren. „Nichts mehr da. Ich konnte nichts mehr bewegen.“ Nie mehr.
Andreas Niedeggen, der Chefarzt des Behandlungszentrums für Rückenmarkverletzte, operiert Zschache im Unfallkrankenhaus und stellt die Diagnose: Bruch des ersten Lendenwirbelkörpers, ab dem zwölften Brustwirbel eingeschränktes Berührungs- und Schmerzempfinden und keine Reflexe mehr. Querschnittgelähmt. „Zschache hat es am Anfang nicht angenommen, dass er damit leben muss. Er hatte sicherlich erhebliche Zweifel, ob er noch ein richtiger Mann ist, ob er mit allen Rädern im Leben stehen kann“, sagt Andreas Niedeggen. Doch irgendwann habe sich das geändert. Plötzlich habe Zschache an sich gearbeitet. „Es gibt Bewegungsidioten, auch als Fußgänger. Aber Zschache ist körperlich extrem geschickt. Das hat er sich selbst abgefordert. Auch von seiner Körpersprache her ist er mächtig stolz auf sich“, sagt der Arzt.
Zschache ist heute zweimal in der Woche in der Reha-Abteilung, dreimal in der Physiotherapie – er absolviert seinen Rehabilitationsplan wie ein Schüler das Nachsitzen: folgsam, aber angetrieben von einer Ungeduld, die darauf harrt, endlich raus zu dürfen. Nach Hoppegarten, zu seinen Pferden.
An der Holztür vor dem Stall lehnt Helena und raucht eine Zigarette in der Sonne. „Mädchen“ nennt Zschache sie. Die 35-jährige ist sein Jockey und Stallbursche. Vor allem aber ist sie die Geduld, die ihm fehlt. Und seine rechte Hand.
Seit seine Frau mit der Tochter vor drei Jahren aus dem Haus auszog, organisiert Helena sein Leben, sie putzt, kocht, wäscht. Sie weiß, wo die Kontoauszüge vom letzten Jahr sind und dass die alten Fotos von seinen Derby-Siegen im Schrank im Keller unten rechts liegen, zwischen den goldenen Gerten und Hufeisen für die Jockeys mit den meisten Siegen.
Helena verzeiht ihm seine Eigenarten. „Wenn er Durchhänger hat, sieht man ihn nicht. Dann verschwindet er im Garten, wühlt in der Erde“, sagt sie. Manchmal kommt er auch in die Box und sagt ihr, was sie machen soll. Sie kennt jeden Handgriff. „Er sagt es nur, weil er alles im Griff haben will. Es ärgert ihn, dass er es selbst nicht mehr machen kann.“ Zschache ist keiner, der die Zügel gern aus der Hand gibt.
Christian Zschache wird 1959 in Dresden geboren. Vater, Mutter und seine Brüder arbeiten als Mediziner. Er weiß schon früh, dass er in den Rennsport will. Mit zwölf Jahren fängt er an zu reiten. Mit vierzehn braucht er für sein erstes Rennen eine Sondergenehmigung der Zentralstelle für Pferdezucht, denn eigentlich ist er für einen Jockey zu jung und zu groß. Doch Zschache überwindet alle Hindernisse. Er reduziert sein Gewicht jeden Tag mit dreistündigem Joggen und anschließendem Saunabesuch, schmilzt es bei einer Größe von 1,70 Meter auf 60 Kilo ein, nach Absprache sogar auf 58. Jockey-Kollegen wie Peter Tendler lernen ihn in dieser Zeit als einfühlsamen und ehrgeizigen Reiter kennen. „Vor allem war er endkampfstark – auf dem letzten Stück vom Rennen hat er das Pferd gefordert bis zum Allerletzten“, berichtet Peter Tendler.
Im Jahr 1976 geht Zschache als 18-Jähriger nach Hoppegarten. 1986 gewinnt er das Derby der DDR mit Abasko, 1987 mit Lomber. In den Jahren 1985 bis 1989 ist er außerdem Hindernis-Champion. Er gehört zu den erfolgreichsten Jockeys in der DDR. Bis zu 60 Siege im Jahr holt Zschache. In dem Buch „Jockeys auf deutschen Rennbahnen“ schreibt Traute König: „Auch nach der Wende ist er ein gefragter Reiter und sieht seiner Zukunft gelassen entgegen.“ Nach seinen Träumen gefragt, antwortet er König: „Einen Wunsch? – Nie mehr Trabi! Wir sind eine glückliche Familie und können nicht klagen. Die Arbeit macht Spaß, wir sind gesund und haben unser Auskommen. Wovon sollte ich denn noch träumen?“
In seinen schlimmsten Träumen hätte Zschache sich nicht ausmalen können, dass sein rasantes Leben je zum Stillstand kommt. Der Bruch, der durch seinen ersten Lendenwirbelkörper geht und sein Leben in zwei Teile teilt, spiegelt sich in seiner Sprache wider. Zschache wechselt vom „ich“ zum „man“, wenn er von der Zeit nach seiner Entlassung aus dem Unfallkrankenhaus spricht: „Man will erstmal keinen sehen, keinen sprechen. Alleine sein. Gibt sich auf.“ Er hängt zu Hause alle Rennsport-Bilder ab.
Ein Pferd bringt Zschache nach einem Jahr in der selbstgewählten Isolation zurück zur Rennbahn. Helmut Kappes, ein befreundeter Trainer, schenkt es ihm. „Das war der ausschlaggebende Moment. Ab da ging es wieder vorwärts. Die Pferde haben mich dahin zurückgebracht, wo ich jetzt bin“, sagt Zschache. Er übernimmt die Waage, auf der die Jockeys vor Rennen gewogen werden, kauft sich nach und nach vier Pferde und trainiert sie.
Seinen ganzen Tagesrhythmus hat er wieder dem seiner Tiere angepasst. Wie in seiner Zeit als Jockey steht er um fünf Uhr auf, um im Stall nach ihnen zu sehen. Bis auf die Reha-Stunden verbringt er den ganzen Tag zwischen Stall und Trainierbahn. Er hat alles ausprobiert nach dem Unfall, segeln, Ski fahren. „Alles zu langweilig. Alles nicht das, was mir die Pferde bringen. Ich brauche Bewegung. Ich denke, dass ich schwieriger geworden bin. Ich mache nur noch in Pferden.“ Das wird irgendwann sogar seiner Frau zu viel, die selbst Rennpferde liebt und besitzt. „Ein Wort gab das andere, und dann ist sie gegangen“, sagt Zschache, es klingt nicht verbittert. Er musste sich einfach entscheiden zwischen der Familie und den Pferden. Beides ging nicht.
Zschache entschied sich für die Pferde, denn er braucht sie und sie brauchen ihn – eine Art Zwangsgemeinschaft. Ihre unbändige Kraft ist die Infusion, die Zschache jeden Tag aufs Neue Energie einflößt. Umgekehrt sind die Pferde auf ihn angewiesen. Ihr Tagesablauf ist minutiös durchgeplant. Vollblüter gelten als besonders intelligent und lernfähig, aber auch als labil. Damit sie die bestmögliche Leistung aus sich herausholen können, müssen sie pünktlich gefüttert und trainiert werden. Sie reagieren extrem sensibel auf die kleinsten Abweichungen.
Das locker aufgeschüttete Stroh erschwert Zschache das Rollen in der engen Box. Er wirkt zierlich in seinem Rollstuhl neben dem majestätischen Vollblüter-Rennpferd, unter dessen glänzendem Fell die Muskeln nervös spielen. Der Schweif zuckt wütend, es schnaubt. Eben hat es Helena gebissen. Das Pferd ist gereizt, denn eigentlich sollte es um diese Zeit schon galoppieren. Zschache weicht den stampfenden Vorderhufen aus. Dann greift er nach dem Halfter und bändigt es, damit es gesattelt werden kann.
Zschache ist kein Pferdeflüsterer. Wenn er mit Pferden und mit Jockeys spricht, klingt sein Tonfall befehlend, wenn auch liebevoll. Nur wenn er über sich selbst redet, wird er leise. Dann flüstert er fast.
Noch ehe Helena in den Sattel klettert, hat sich Zschache in seinem Auto, das vor dem Stall steht, auf den Rand des Kofferraums gehievt. Er pfeffert den zusammengeklappten Rollstuhl hinein, hangelt sich am Auto entlang und sitzt schon hinter dem Steuer. Es ist gleichzeitig Lenkrad, Gas und Bremse. Im Schritttempo fährt er auf dem Weg zur Trainierbahn neben Helena her. „Lass ihn gehen“, ruft er ihr zu. „Nicht so langsam.“ Der Eigentümer von Hoppegarten, Gerhard Schöningh, hat ihm erlaubt, mit dem Auto neben der Trainierstrecke zu stehen. Seinen ganzen Ehrgeiz konzentriert Zschache auf seine Pferde, damit sie schnell und erfolgreich sind. Er ist wieder im Rennen. Neben der Rennbahn.
„Mein neuer Lebensinhalt“
Als er Bodyguard of Spain mit dem Starjockey Andreas Suborics 2001 in Hoppegarten zum Sieg führte, wurde auch Zschache aufs Siegertreppchen gehoben. Er sagte damals: „Der Hengst ist mein neuer Lebensinhalt. Ich wollte beweisen, dass er etwas kann.“ Es klang, als spräche er von sich.
Sein größter Triumph? Dass er jeden Tag an seine Grenzen geht. Da ist er Sportler geblieben. „Jeder muss an sich arbeiten und das Bestmögliche versuchen“, sagt Zschache. „Wahrscheinlich fällt es Spitzensportlern leichter, darüber hinwegzukommen. Sie wissen, wie weit sie gehen können. Was sie aus ihrem Körper rausholen können. Wenn einer sagt, er kann nicht – das gibt’s überhaupt gar nicht.“
Wenn am Sonntag die erste Musik aus den Lautsprechern unter den alten Eichen hinter der Tribüne von Hoppegarten erklingt, wird in den umliegenden Ställen die Nervosität steigen. Die Pferde wissen dann genau, dass ein Renntag beginnt. Später wird auch Zschache unruhig werden, in seinem Rollstuhl hin und her rutschen neben der Bahn unweit der Waage. Dann wird das Raunen auf den Zuschauerrängen langsam verstummen, alle werden zum Start schauen und den Rasen der Rennstrecke taxieren.
Als Zschache noch selbst im Sattel saß, auf einem der stampfenden Pferde auf den Start wartete, da sei er immer sehr ruhig gewesen, sagt er. Auch 1987, damals, als er Lomber ritt, ein Speedpferd, das von hinten kam und auf der Zielgeraden vor der tobenden Tribüne als erstes durchs Ziel galoppierte. Heute ist alles anders. „Schlimm ist für mich das Zugucken. Dass man nicht mehr eingreifen kann“, sagt Zschache mit leiser Stimme.