Ein einziges Mal nur in dieser kalten Nacht ist Artur Darga fassungslos. „Das habe ich noch nicht erlebt“, sagt er gegen 24 Uhr. Zwei Obdachlose hocken vor ihm in einer Ecke im Keller des Berliner Ostbahnhofs. Die Plastiktüte voller Flaschen neben ihnen ist ihr einziger Besitz. Obwohl ihr Blick getrübt ist, haben sie Darga wiedererkannt. Auf Polnisch hat der eine von ihnen, Jurek*, erzählt, dass sie von einer Notunterkunft abgewiesen wurden. Sie seien dann wieder im Ostbahnhof gelandet, sagt Jurek, ein Polizist habe sie in ihrer Ecke aufgestöbert und den Kältebus gerufen. Artur Darga, der Fahrer des Busses, hat die Nummern der Obdachlosen-Hilfestationen in seinem Handy gespeichert. Er telefoniert kurz. „Ich habe gefragt, warum sie weggeschickt wurden“, sagt er dann. „Es gibt keinen Grund. Wenn sie gegen die Hausregeln verstoßen, aggressiv sind oder zu betrunken. Aber einfach so? Jemanden bei diesen Minustemperaturen rauszuschicken, ohne Grund – das kann nicht sein.“
Paradoxe Wärmeempfindung
Es ist kalt in diesen Januartagen, besonders nachts; allein in Berlin sind seit Winterbeginn schon drei Menschen draußen erfroren. Im Winter 1994 hat der Tod eines Obdachlosen die Mitarbeiter der Berliner Stadtmission auf die Idee gebracht, den Kältebus auf nächtliche Hilfsreisen zu schicken. Seitdem ist der Bus unterwegs, um Obdachlose, die es aus eigener Kraft nicht mehr schaffen, in eine Notunterkunft zu bringen. Die Angst, dass sich unter einer eingeschneiten Erhebung ein Kältetoter verbirgt, fährt mit im Bus, in jedem Moment, in jeder Nacht von November bis März.
Der Tod in der Kälte folgt stets derselben Chronologie. Zwischen 35 bis 32 Grad Körpertemperatur wird das Urteilsvermögen eines Menschen beeinträchtigt und ein apathischer Zustand erreicht. Zwischen 32 bis 28 Grad tritt eine paradoxe Wärmeempfindung auf, die „Kälteidiotie“. Ab 28 Grad wird man bewusstlos. Der Kreislauf fährt runter, Herzstillstand droht. Das Fehlen jeglicher Lebenszeichen markiert den „Scheintod“. Wie schnell die Körpertemperatur fällt und ein Mensch in diese lebensbedrohliche Lage gerät, ist von seiner Gesundheit abhängig. Das Risiko steigt, wenn man Alkohol trinkt, im Freien liegt und dabei einschläft. Diesen Risiken sind Obdachlose besonders ausgeliefert. Armut macht krank, und der Alkohol tut sein Übriges.
20.15 Uhr, minus vier Grad. In den Straßen Berlins hat sich die weiße Eleganz des Neuschnees in eine dreckig-glatte Schicht verwandelt – aufgetauter Matsch, der vermischt mit Großstadtmüll wieder gefroren ist. Immerhin soll es in dieser Nacht trocken bleiben. „Das ist gut, denn Nässe ist genauso gefährlich wie starke Minusgrade“, sagt Artur Darga. Bevor er zu seiner Tour aufbricht, hört er die Anrufe auf dem Notrufhandy ab. Über diese Nummer melden sich Passanten oder Anwohner, wenn sie einen Obdachlosen treffen, der einen Schlafplatz für die Nacht braucht.
Artur Darga notiert sich die Straßen, in denen er suchen soll und plant seine Route. Es gibt auch Orte, an denen er immer vorbeifährt, weil er weiß, dass unter einer bestimmten S-Bahn-Brücke oder an einer geschützten Stelle in einem Park Obdachlose ihr Quartier aufgeschlagen haben. Wenn sie das nicht aufgeben wollen, kann ihnen Darga immerhin einen heißen Tee anbieten. Vor der Abfahrt packt er stets eine gefüllte Thermoskanne, Plastikbecher, zwei Schlafsäcke und ein paar Schuhe in den Bus.
In diesem Winter ist Hilfe gegen die Kälte besonders gefragt. Zwei Nächte zuvor hat die Notunterkunft der Stadtmission die höchste Überbelegung in ihrer Geschichte erlebt. In den für 60 Menschen ausgelegten Räumen schliefen viele der 184 Gäste auf Isomatten auf dem Boden. Wenn die Zahl der Hilfesuchenden weiter so zunimmt, wird in diesem Winter mit einer Zunahme von 20 Prozent ein Höchststand erreicht. Über die Gründe können die Helfer nur spekulieren. Vielleicht die Wirtschaftskrise oder die Visafreiheit einiger osteuropäischer Länder, vielleicht die Lage in der „Armutshauptstadt“ Berlin, in der das Risiko des sozialen Abstiegs hoch ist.
Artur Darga ist konzentriert und still, als er hinter dem Lenkrad sitzt und die erste Station des Abends in Kreuzberg ansteuert. Er ist 46 Jahre alt. Sein Gesicht erzählt von einem harten Leben. Die Narbe unter seinem Auge, wenige Zentimeter lang, ist scharf wie von einem Messer geschnitten. Er hat jahrelang auf der Straße gelebt. Doch das, was ihn fast das Leben gekostet hätte, war nicht die Obdachlosigkeit, sondern die Drogenabhängigkeit. Sein aufgedunsenes Gesicht verrät es.
Mit 14 Jahren war Darga Alkoholiker. Mit 18 wurde er heroinabhängig und stellte Drogen auf Opiatbasis selbst her. Er konsumierte sie und verkaufte sie. Als er sein Geburtsland Polen verließ und nach Deutschland kam, war er ein Jahr lang clean. Er arbeitete in einer Folienverarbeitungsfabrik, hatte dann einen Autounfall unter Drogen, verlor seinen Führerschein und seine Arbeit. „Von da an ging es richtig bergab“, sagt er. Seine Frau verließ ihn mit den Kindern. „Klugerweise.“ Ohne Dach über dem Kopf lebte Darga auf der Kurfürstenstraße. „Der Drogenstrich war mein Zuhause, meine Arbeit.“ Dort verkaufte er Benzos, Beruhigungspillen. Tagsüber schlief er seinen Rausch in Hauseingängen aus. Nachts lief er herum. „Gerade im Winter darf man nicht einschlafen“, sagt er. In dieser Zeit traf er immer wieder auf den Kältebus. Manchmal nahm er einen Tee, nie stieg er ein. „Als Drogenabhängiger war ich menschenscheu. Bei zwei Menschen hatte ich noch den Überblick. Mehr als zwei bedeuteten Chaos für mich.“
Die Wende in seinem Leben dauerte acht Monate. „So lange hatten die christlichen Sozialarbeiter Geduld mit mir, bis ich noch einen Entzug anfing.“ Am 4. November 2002 setzte er sich den letzten Schuss, es folgte ein kalter Entzug. Er begann, die Bibel zu lesen und arbeitete als ehrenamtlicher Streetworker auf der Kurfürstenstraße. Dann schlug ihn jemand als Fahrer für den Kältebus vor. Darga spricht oder versteht die meisten osteuropäischen Sprachen. In jedem Jahr werden es mehr Obdachlose aus diesen Ländern.
„Artur Darga strahlt eine unglaubliche Ruhe aus. Ist extrem gutmütig und geduldig. Weil er seine eigene Art und Erfahrung hat, gibt er aber auch Impulse, sagt, was wir ändern können“, erzählt Ortud Wohlwend, die Sprecherin der Berliner Stadtmission. Sie beschreibt Darga als eine Art „modernen Robin Hood“. Der stellte bei der Einstellung nur eine Bedingung: „Wo ich bin, ist auch mein Hund.“ Tikwa heißt sein Golden Retriever, das ist hebräisch und bedeutet Hoffnung. Artur Darga bekam die Stelle.
Tikwa hat einen Stammplatz auf den Rücksitzen des Kältebusses. Sie sind aus Plastik, sie müssen abwaschbar sein. Das Plastik garantiert einen der unumstößlichen Grundsätze des Kältebusses: Jeder darf einsteigen. Auch wenn die Menschen die Krätze oder Läuse mitbringen, ihre Kleidung von Urin oder Kot verklebt ist – nichts davon ist ein Grund, sie abzuweisen.
Es ist nach 21 Uhr, Darga ist sauer. Ein Anwohner hat den Kältebus in den Kreuzberger Gräfekiez gerufen, dort wartet ein junger Serbe. Er zittert vor Kälte am ganzen Körper, ein Schneidezahn fehlt ihm. Er ist manisch-depressiv, wartet auf einen Platz in einer psychosozialen Einrichtung und möchte in eine Notunterkunft. Eine schlimme Geschichte, aber Darga beeindruckt sie nicht. „Du bist fit. Du kannst selber in eine Notunterkunft laufen. Wir retten Menschen vor dem Erfrieren. In der Zeit, in der ich dich fahre, bleibt ein anderer, der nicht mehr laufen kann, im Schnee liegen.“ Der Junge entschuldigt sich. „Hast recht. Du bist korrekt“, sagt er. Darga lächelt ihm zu. „Jetzt bin ich hier und fahr dich auch. Aber nicht noch einmal.“
Um 22 Uhr hält Artur Darga am Bahnhof Zoo. Er bietet Tee an, eine kleine wärmende Geste, die gerne angenommen wird. Heißer, stark gesüßter Tee, Schlafsack und Kleidung – diese Dinge stehen für einen weiteren Grundsatz des Kältebusses. Artur Darga rettet die, die er trifft in den frostigen Nächten, nicht gegen ihren Willen. Die Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen, ist oft das einzige, was sie noch haben.
Manche entscheiden sich gegen das warme Quartier. In den Notunterkünften, sagen sie, werde man im Schlaf bestohlen, man sei Betrunkenen ausgeliefert, könne Opfer eines gewalttätigen Übergriffs werden oder sich mit Krankheiten anstecken. Alles Gründe, vor denen die Hausregeln schützen.
Artur Darga sagt: „Oft sind sie einfach zu betrunken. Oder ihnen fehlt das Vertrauen in die Menschen, weil sie schlechte Erfahrungen gemacht haben.“ Manchmal entwickelt sich aus einem Gespräch bei einem heißen Tee das Vertrauen, in den Bus zu steigen. Wenn nicht, versucht Darga den Menschen zu einer warmen Jacke zu überreden oder sich wenigstens in einen dicken Schlafsack zu legen. Später fährt er dann noch einmal an der Stelle vorbei. Erst wenn ein Mensch nicht mehr Herr seiner Sinne ist, ruft er die Feuerwehr oder Polizei.
Irgendwann auf der Fahrt durch die Nacht – die Passagiere, die Darga in Kreuzberg und am Bahnhof Zoo eingesammelt hat, hat er gerade in zwei Notunterkünften untergebracht – antwortet Darga plötzlich auf die Frage nach seiner Motivation: „Gott. Er hat mir geholfen, als ich mich schon aufgegeben hatte.“ Wie kann man denn noch an Gott glauben, wenn das Problem der Obdachlosigkeit immer größer wird? Artur Darga lächelt wissend und sagt: „Ich bin der beste Beweis dafür, dass es ihn gibt.“
Rausch kennt keine Zukunft
Es ist nach Mitternacht. Im Berliner Ostbahnhof sieht es aus wie auf einem Trümmerfeld. In Alkoholpfützen liegen Flaschenscherben. Betrunkene grölen. Eine wankende Gestalt nähert sich, noch ein Passagier. Viele hier wissen, dass Darga irgendwann in der Nacht vorbeikommt. Auch Jurek und sein Begleiter, die beiden, die von einer Notunterkunft abgewiesen wurden und wieder am Ostbahnhof gelandet sind, klettern in den Bus. Darga trägt Uhrzeit, Außentemperatur, Ort und die Anzahl der Mitfahrenden in das Fahrtenbuch ein. Da springt die Schiebetür wieder auf. Jurek steigt schweigend aus und steuert mit rudernden Armen wieder auf den Bahnhofseingang zu. Vielleicht hat ihn die menschliche Nähe in der Enge des Busses überfordert. Ein von Alkohol zugedröhnter Kopf wägt nicht das Für und Wider ab. Jurek hat seine zweite Chance auf einen Schlafplatz vergeben. Er wird draußen übernachten müssen oder wieder vor dem geschlossenen Rewe im Keller des Bahnhofs ausharren, bis die Polizeibeamten ihn erneut entdecken. Doch all das beschäftigt Jurek in diesem Moment nicht. Der Rausch kennt nur den Moment, nicht die Zukunft.
„Er hat keine Geduld zu warten, bis ich fertig bin mit der Liste. Was soll ich machen? Ich kann ihn nicht zwingen“, sagt Artur Darga, und in seiner Stimme schwingt ein wenig Resignation mit. Vor allem aber Geduld. In der nächsten Nacht wird er wieder versuchen, Jurek zum Einsteigen zu bewegen.