Notübernachtung in der Weserstraße im Osten Berlins, sieben Uhr morgens. Die frisch gedruckte Straßenzeitung „motz“ ist angeliefert, damit sich die Straßenverkäufer damit versorgen können. Michael Putzar genannt Mikele, ViSdP der „motz“ und Hauptverantwortlicher für die „motz-life“, sitzt an einem Tisch im Aufenthaltsraum. Der Aufenthaltsraum ist gleichzeitig Küche, Wohnzimmer, „motz“-Verteilstation, Büro und „motz-life“-Redaktion. Auf dem Tisch steht eine Kanne frischer Kaffee, an der jeder sich bedienen kann. Auch das Päckchen Tabak für Selbstgedrehte ist für alle da. Die Ausstattung ist schlicht und liebevoll gepflegt. An der Wand hängen persönliche Erinnerungsfotos. Das Prinzip „motz-life“ funktioniert auf Augenhöhe: „Man piept sich untereinander an.“ Die Themenschwerpunkte sind Monate im Voraus ersonnen.
Obdachlose – Wohnungslose, wie es formal richtig heißt – die schreiben wollen, geben ihre Artikel sowohl handgeschrieben, per Schreibmaschine getippt oder digital an Mikele: „Das ist zum Teil ein ganz schönes Chaos. Aber es soll ja jeder sagen, was und wie er es will.“ Mikele trägt Geldbeträge in einen kleinen Quittungsblock ein. Die Straßenverkäufer geben das, was sie gerade „auf Tasche haben“ und erhalten eine „motz“ für 40 Cent, die sie für 1,20 Euro verkaufen. Mal sind es 20 Euro, die Mikele hingestreckt werden, mal 2 Euro. Mal wird der nächste Artikel abgesprochen oder der letzte kommentiert, manchmal fällt nur ein Wort. „Die Straßenzeitung ist ja auch aus dem sozialkritischen Aspekt entstanden, dass man den Leuten etwas in die Hand geben wollte, damit sie eine Zeitung verkaufen, Geld verdienen und in ein Kauf-Verkauf-Verhältnis und ins normale Leben treten.“ Außerdem soll Beschaffungskriminalität verhindert werden.
Die Zwei-Klassen-Redaktion
2000 entstand die „motz-life“ aus einer Not heraus. Christian Linde, Chefredakteur und gleichzeitig einziger angestellter Redakteur der „motz“, hatte sich außerstande gefühlt, alle zwei Wochen eine „motz“-Ausgabe zu füllen. Eine zweite Redaktionsstelle sollte helfen, doch dafür hatte der gemeinnützige Verein kein Geld. Die von der „motz“ finanzierte Notunterkunft sprang ein. Michael Krahn, ehemals zur See gefahren, lange Jahre obdachlos und schließlich Leiter der Notunterkunft, schlug vor, eine zweite Ausgabe monatlich mit Hilfe der Wohnungslosen aus der Notunterkunft zu füllen, die „motz-life“ war geboren. Ohne Vorlauf, ohne journalistische Kurse. Schwerpunkt ist hier die „Arbeit mit Betroffenen, die eine stark integrative Wirkung hat“, wie die „motz“-Homepage aufklärt.
Vom journalistischen Knowhow der „motz“-Redaktion kann die „motz-life“ allerdings wenig profitieren. Linde, langjähriger Journalist, hat nach Auskunft der „motz-life“-Mannschaft noch kein einziges Mal die Notunterkunft besucht. „Selbsthilfe statt Hilfe“ lautet hier das Prinzip und hört sich auf der Homepage der „motz“ so an: „Ganz im Sinne der Selbsthilfeidee wird hier sehr erfolgreich auf staatliche Finanzierung und professionelle Unterstützung durch Nichtbetroffene verzichtet.“ So gilt die „motz-life“ als boulevardeske „Bunte von unten“ – die „motz“ als investigativer Berliner Sozial-„Spiegel“.
„Geizt mit Anerkennung, Anteilnahme und Förderung“
Diese qualitativ bedingte Aufteilung der Redaktion in zwei Klassen wird durch die örtliche Trennung zementiert: Die „motz-life“ entsteht in Friedrichshain, die „motz“ in Kreuzberg 61 mit „Linde und zwei, drei Leuten aus seinem Dunstkreis“, so Stefan Schneider, Gründungmitglied der „motz“ und ehemaliger Redakteur des „Straßenfegers“. Informationen zwischen den Redaktionen fließen nur einseitig. Während die „motz-life“ der „motz“ ihre Themenvorschläge für die nächsten Monate regelmäßig schickt, erfährt sie im Gegenzug das, was die motz schreibt erst, wenn die frisch gedruckte Ausgabe an die Notunterkunft ausgeliefert wird: „Es ist noch nicht einmal ein Informationsgefälle, es herrscht Funkstille“, fasst Mikele den Workflow zusammen.
Auch personelle Überschneidungen im Autorenstamm sind die Ausnahme. Ein Zeitungsverkäufer, der bisher für die „motz“ unter dem Pseudonym Findikus schrieb, wechselte zu den Autoren der „motz-life“. Über die Gründe will er nicht sprechen. Aber er hinterließ eine sprechende Kolumne in der 100. Ausgabe der „motz“ im April dieses Jahres: „Kein Hätschelkind“. Darin sagt er über die intern als „Schmuddelmotz“ bezeichnete Zeitung: „[..] dieses Misstrauen hat sich bis heute in manchen Köpfen festgesetzt.“ Auch er bemängelt die Zwei-Klassen-Redaktion: „Anzumerken bleibt, was Kritiker innerhalb des Vereins immer wieder Wasser auf die Mühlen gibt, dass die ‚motz-life’ bis heute zu keiner ‚erwachsenen’ Zeitung herangewachsen ist. Die Frage sei aber auch erlaubt, ob ein derartiger Reifeprozess überhaupt (noch) im Interesse der Macher oder der aktiven Leserschaft liegt?“ Offen spricht er den Missstand an, dass „die Zeitung kein Hätschelkind des Herausgebers ist, der mit Anerkennung, Anteilnahme und Förderung, ja sogar mit innerbetrieblicher Kommunikation geizt“.
Motz! Mich! Nicht! An!
Gern hätten wir die Perspektive der „motz“-Redaktion geschildert. Leider war das unmöglich. Nachdem sich die Autorin dieses Artikels mit der „motz-life“ im Büro der Layouter getroffen hatte, um auch über den Produktionsprozess berichten zu können, wurde sie am Telefon vom Chefredakteur der „motz“, Christian Linde, beschimpft. Eigentlich war ein Interview mit ihm über die „motz“ verabredet. Doch dazu kam es nicht. O-Ton Linde: „Was erlauben Sie sich, dass sie einfach zu unseren Layoutern ins Büro gegangen sind. Da haben Sie sich die Erlaubnis von der Geschäftsstelle des Vereins zu holen. Das können nicht wohnungslose Leute erlauben!“ Die Frage nach Mitspracherecht oder gar Kommunikation auf Augenhöhe, die sich nach diesen Äußerungen aufdrängte, konnte nicht mehr gestellt werden. Linde legte einfach auf.
Für Stefan Schneider ist die Antwort auf die Frage nach dem Mitspracherecht der Obdachlosen in den Straßenzeitungen eindeutig: „Nicht der Vorstand des Vereins ist der Chef, sondern die Gruppe der Straßenverkäufer.“ Für ihn ist ganz klar, dass es bei dem Projekt in erster Linie um die Verkäufer geht. In der Geschichte der Obdachlosenzeitungen in Berlin sorgte diese Frage immer wieder für Streit. 1994 gründen sich fast zeitgleich das „MOB“-Magazin (Magazin obdachloser Bürger) und die „HAZ“ (Hunnis Allgemeine Zeitung) – „eine Gruppe Punks von Rosa-Luxemburg-Platz, die sich um Uwe Hundertmark, Hunni, scharten“, so Schneider. Nach einem Jahr hatten sich beide jeweils von Richtungsstreits erschütterten Projekte selbst erledigt. Heiß umkämpft war immer wieder die Frage nach dem Einfluss der Straßenverkäufer, die sogar in einer Besetzung der „MOB“-Redaktion durch Straßenverkäufer im Mai 1994 gipfelte. Zudem sollen bei der „MOB“ unhaltbare Zustände geherrscht haben: „Leute bedienten sich aus der Kasse, ganze Zeitungspakete wurden mit einem Joint bezahlt, Verkäufer junkten, stinkende Socken lagen auf dem Computerkeyboard und Erbrochenes neben dem Tisch“, fasst Schneider einige unschöne Details zusammen. Dies und die Richtungsstreits bei beiden Zeitungen endete im Zusammenschluss zur „motz“: Eine sprachliche Hybridbildung aus beiden Titeln.
„Variationen des gleichen Themas“
Die folgenden Überwerfungen und Neugründungen der verschiedener neuer Straßenzeitungsprojekte („Platte“, aufgelöst, weil der Vorstand mit der Kasse durchbrannte, ein Blatt, aus dem der „Straßenfeger“ hervorging und „Stütze“, eine Koalition aus Abspaltungen von „motz“, und „Straßenfeger“, seit Mai 2008 eingestellt) sind nach Auffassung von Schneider „Variationen des gleichen Themas“. Er macht auf den Grundsatz aufmerksam, nach dem beispielsweise der „Straßenfeger“ arbeitet: „Straßenverkäufer-Artikel haben Vorrang, weil sie die authentische Sicht von der Straße zeigen“. Außerdem sei der innere Redaktionskreis ganz bewusst von Straßenverkäufern besetzt worden, damit kein Entfremdungsprozess stattfinde. Eben nicht so wie bei Linde, dem Chefredakteur der „motz“, der immerhin auch Gründungsmitglied sei: „Der hat so wenig mit wohnungslosen Leuten zu tun, weil er sich von dieser Realität entfernt hat, beziehungsweise noch nie ein Teil davon war.“
Die Leser der Straßenzeitungen haben längst ihren eigene Favoriten erkoren. Ein Straßenverkäufer, der seinen Namen nicht nennen will, ist aus seiner langjährigen Erfahrung mit der „motz“ aber gerne bereit eine Lesertendenz abzulesen. Sein Stammplatz ist der Edeka an der Ecke, dessen Vorplatz und Einkaufswagen er penibel von Weggeschmissenen Kassenbons, Einkaufslisten oder leeren Packungen sauber hält. Vor allem die Vorlieben seiner Stammkunden kennt er genau und resümiert: „Die wollen vermehrt die ‚motz-life’ lesen, weil die wissen, dass wir das selber schreiben und sie diese ehrliche Sichtweise von der Straße interessiert.“